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"Nur eine Minderheit verhält sich wie ein Homo oeconomicus"

Wie wirken sich Marktintegration und Klimawandel auf den sozialen Zusammenhalt aus? PICAIS-Stipendiat Dr. Gianluca Grimalda geht dieser Frage nach, indem er Daten analysiert, die er bei Experimenten in Papua-Neuguinea gesammelt hat - mit teilweise überraschenden Ergebnissen.

Dr. Gianluca Grimalda im Gespräch mit seinen Gastgebern an der Universität Passau, Dr. Katharina Werner und Professor Johann Graf Lambsdorff, mit dem Passauer Bahnhof im Hintergrund. "Langsames Reisen", Reisen auf dem Boden, ist die bevorzugte Option von Dr. Grimalda, der als der Forscher bekannt geworden ist, der nicht fliegen will.

Dr. Gianluca Grimalda untersucht als Sozialwissenschaftler die sozialen Auswirkungen des Klimawandels mittels Feldforschung auf der Insel Bougainville vor der Küste von Papua-Neuguinea. IndenMedien wurde er als forschender Flugverweigerer bekannt, was ihn schließlich seine Position am Kieler Institut für Weltwirtschaft kostete. Seine Geschichte sorgte für nationales und internationales Medienecho. Dr. Katharina Werner und Professor Johann Graf Lambsdorff von der Universität Passau nahmen dies zum Anlass, ihn als Stipendiat an das PICAIS - Passau International Centre for Advanced Interdisciplinary Studies einzuladen. Dr. Werner und Dr. Grimalda haben ein gemeinsames Forschungsinteresse im Bereich der experimentellen Ökonomie und waren sich bereits auf verschiedenen internationalen Konferenzen begegnet. Während seines sechsmonatigen Forschungsaufenthalts in Passau wird Dr. Grimalda mit Hilfe von Dr. Werner die Daten analysieren, die er in seinen Feldstudien auf der Insel Bougainville gesammelt hat. Mit seinen dortigen Experimenten versucht er, die Frage zu klären: Machen uns Marktintegration und der Klimawandel egoistischer oder kooperativer? Ein Gespräch über die menschliche Natur und überraschende Ergebnisse der Experimente.

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Macht uns Marktintegration egoistischer?

Wenn man dazu eine willkürliche Straßenumfrage machen würde, würden 99 Prozent dies bejahen. Aber in der Anthropologie sagen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Gegenteil. Sie argumentieren, dass Märkte uns lehren, Fremden zu vertrauen. Vor allem in den Stammesgesellschaften, die ich in Papua-Neuguinea erforsche und in denen viele Beziehungen auf der Ebene der Familie oder des Dorfes stattfinden, bringen die Märkte den Menschen bei, dass das Netz derer, denen sie vertrauen können, viel größer ist als nur die Familie oder der Clan oder die Menschen in ihrem Dorf.

Wie messen Sie den Faktor Marktintegration in Ihrer Feldforschung?

Wir fragen die Menschen zum Beispiel nach ihrer Ernährung. Wie viele Kalorien stammen aus Lebensmitteln, die sie auf dem Markt kaufen? Und wie viele stammen aus Lebensmitteln, die sie in ihrem Garten anbauen? Tatsächlich haben mein Team und ich 1800 Menschen dazu befragt, was sie gestern und vergangene Woche gegessen haben. Eine meiner Aufgaben hier in Passau wird es sein, dies zu analysieren und aus den Kalorien die Marktintegration abzuleiten. Ein weiterer Indikator ist, wie nah die Menschen am Markt wohnen, wie lange der Weg dorthin dauert und wie viel Geld er kostet. Wir untersuchen auch, wie viel ihres Einkommens aus dem Verkauf ihrer Produkte auf internationalen Märkten stammt. In Bougainville zum Beispiel, wo ich meine Forschung durchgeführt habe, verkaufen die Menschen Kokosnussöl auf internationalen Märkten. Während unserer Forschung im Jahr 2019 konnten wir zeigen, dass vor allem die Verbindung zum internationalen Markt für den sozialen Zusammenhalt von Bedeutung ist. In einigen Dörfern begannen wir, Ungleichheit und Toleranz gegenüber Ungleichheit zu beobachten. Und das wollten wir uns genauer ansehen.

Wie haben Sie das gemacht?

Ich verwende ähnliche Methoden wie Katharina Werner. Wir arbeiten beide mit experimenteller Ökonomie. Das bedeutet, dass wir die Menschen in Spiele verwickeln. In den Dörfern auf Bougainville haben wir ein Geschicklichkeitsspiel zwischen jeweils zwei Personen gespielt. Sie mussten Ringe in einen Eimer werfen. Damit konnten sie insgesamt 24 Kina verdienen, das ist die Landeswährung in Papua-Neuguinea. Der „Gewinner“ würde 20 Kina erhalten und der „Verlierer“ 4 Kina. Und dann fragten wir sie, wie sie die 24 Kina unter sich aufteilen würden. Das war unser Maßstab für Prosozialität, für die Bereitschaft, einander zu helfen. Sie wussten nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Sie wussten, dass es entweder eine Person aus dem Dorf oder aus einem anderen, weit entfernten Dorf sein könnte. In einigen Dörfern entschieden sich viele Menschen dafür, den Betrag gleich aufzuteilen. In anderen Dörfern stellten wir fest, dass die Person, die mehr Ringe in den Eimer warf, einen größeren Anteil an den 24 Kinas haben wollte. Und in wieder anderen Dörfern, in zwei Orten in der Nähe des Marktes, fanden wir sehr egoistische Menschen. Aber in unseren neuen Daten zeigt sich nicht mehr ein so klares Bild.

Was hat sich verändert? Haben Sie ein Beispiel?

Wir haben in einigen Dörfern, auch in der Nähe der Marktstadt, sehr kooperative Menschen angetroffen, die sehr bereit waren zu teilen. Sie fragen nach einem Beispiel - ich war besonders fasziniert von einem Dorf, das ganz in der Nähe lag, nur vier Minuten mit dem Auto entfernt, und angebunden war mit einer sehr guten Straße. Aufgrund meiner früheren Studien hatte ich erwartet, dass die Menschen relativ egoistisch sein würden. Stattdessen waren sie sehr kooperativ, sie teilten am ehesten gleichmäßig, ebenso in unserer zweiten Forschungsreihe. Deshalb wollte ich mehr über sie erfahren. Sie erzählten mir, dass sie ein kooperatives Unternehmen hatten, an dem viele Menschen in der Gemeinde beteiligt waren, um Fisch zu verkaufen. Die Leute gingen fischen, verkauften den Fisch auf dem Markt und alle Einnahmen wurden gleichmäßig unter der Gemeinschaft aufgeteilt. Es ergab also Sinn, dass die Menschen in unserem Spiel so kooperativ waren, denn sie waren es ja auch im wirklichen Leben.

Der Klimawandel ist wahrscheinlich das schwierigste Kooperationsproblem, weil 8 Milliarden Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen betroffen sind. Auf internationaler Ebene mit vielen verschiedenen Kulturen beobachten wir sehr wenig Zusammenarbeit.

Dr. Gianluca Grimalda

Was ist mit dem Konzept des Homo oeconomicus? Wie passt das in diese Theorie?

Die Methodik der experimentellen Ökonomie hat dazu beigetragen, dieses Konzept zu zerstören und herauszufinden, dass sich glücklicherweise nur eine Minderheit der Menschen im wirklichen Leben wie ein Homo oeconomicus verhalten. In unseren Spielen finden wir normalerweise nur ein Drittel der Teilnehmenden, die sich so verhalten. In strategischen Spielen, in die auch Vorstellungen über das Verhalten der anderen einfließen, sogenannte Vertrauensspiele, können die Annahmen eines Homo oeconomicus in Kombination damit, dass sich andere Leute auch so verhalten würden, lediglich fünf Prozent des Verhaltens erklären. Die meisten Menschen haben soziale Normen und solche der Fairness. Natürlich könnte man argumentieren, dass es einfacher ist, zu anderen Menschen nett zu sein, wenn wenig Geld vorhanden ist. Aber auch wenn es viel Geld gibt, zeigen Experimente, dass die Menschen nicht völlig egoistisch sind. In der Forschung sprechen wir gerne von "Homo reciprocans". Wenn ich von meinen Mitmenschen erwarte, dass sie nett zu mir sind, bin ich es auch zu ihnen. Das scheint unserer Psychologie näher zu sein als die Psychologie eines Homo oeconomicus. Und das ist auch das, was ich auf meiner Reise gelernt habe: Ich sehe eine große Bereitschaft, anderen zu helfen, in dem Fall mir. Auf meiner Reise habe ich mindestens 50 Menschen getroffen, die ihre Zeit und manchmal sogar ihr Geld geopfert haben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, nur weil sie helfen wollten. Allerdings ist es in vielen Situationen so, dass wir nicht besonders gut zusammenarbeiten. Der Klimawandel ist wahrscheinlich das schwierigste Kooperationsproblem, weil 8 Milliarden Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen betroffen sind. Auf internationaler Ebene mit vielen verschiedenen Kulturen beobachten wir sehr wenig Zusammenarbeit.

In seinem Büro an der Universität Passau ist Dr. Gianluca Grimalda umgeben von Souvenirs, die er von seinen Reisen in Länder des globalen Südens mitgebracht hat.

Warum funktioniert die Zusammenarbeit auf lokaler Ebene, aber nicht auf globaler Ebene?

Auf lokaler Ebene kann man das nutzen, was wir indirekte Gegenseitigkeit nennen. Wenn ich Ihnen etwas Gutes tue und eine andere Person mich dabei beobachtet, wird sie mir auch etwas Gutes tun. In gewisser Weise gibt es bereits eine soziale Norm, die festlegt, was gut ist und was nicht. Das kann sich auf größere Gruppen übertragen. Deshalb ist es auch relativ einfach, in Gruppen auf lokaler Ebene zu kooperieren, weil die Beziehungen persönlich sind. Ich kann relativ gut sehen, wer Gutes tut und wer nicht. Bei internationalen Beziehungen ist es dagegen viel schwieriger, sich gegenseitig zu beobachten.

Wie sieht es mit der Belastung durch den Klimawandel aus? Haben Sie Eindrücke aus Ihrer Feldforschung, wie das die Zusammenarbeit verändern könnte?

Alle Gemeinden, die an der Küste von Bougainville leben, haben die Folgen des Klimawandels bereits zu spüren bekommen, da sie umsiedeln mussten. Der Meeresspiegel ist gestiegen und auch das Land sinkt aufgrund tektonischer Bewegungen. Aber als sie umziehen mussten, war das nicht lebensbedrohlich. Was lebensbedrohlich ist, und das ist etwas, das immer häufiger vorkommt, ist der Mangel an Nahrung. Die meisten Menschen erzählten mir, dass sie die Erfahrung gemacht haben, dass die Dürreperiode inzwischen bis zu sechs Wochen andauert. Eines der Probleme ist, dass es weniger regnet, die Temperaturen steigen, und so leiden sie wirklich unter Nahrungsmittelknappheit. Es gibt zwar noch keine Hungersnöte wie in Afrika, aber ich denke, sie könnten sich einer solchen Situation nähern. Mancherorts hat man mir gesagt, dass man bestimmte Lebensmittel nicht mehr anbauen kann. Das ist besorgniserregend.  Hier in Passau werde ich mit Hilfe des Teams von Professor Graf Lambsdorff, insbesondere Katharina Werner, die Daten analysieren, die wir gesammelt haben, um zu untersuchen, ob diese Erfahrungen unsere Erkenntnisse über den sozialen Zusammenhalt verändert haben.

Sie sind die 36.000 Kilometer von Kiel nach Bougainville und zurück gereist, ohne zu fliegen. Damit haben Sie nach eigenen Angaben 7,6 Tonnen CO2 eingespart, aber am Ende Ihren Job verloren. Ist es ökonomisch sinnvoll, statt des Flugzeugs den Zug zu nehmen?

Dr. Grimalda und Professor Graf Lambsdorff von der Universität Passau eint ihr Forschungsinteresse am Bereich der experimentellen Ökonomie.

Wirtschaftlich vernünftig definitiv nicht. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, mir die Flugpreise anzuschauen, weil ich nicht sehen wollte, wie billig die Flüge im Vergleich zu einer Bahnreise sind, denn das hätte mich wütend gemacht. Ich habe ausgerechnet, dass mich diese Reise von Deutschland nach Papua-Neuguinea, Hin- und Rückflug, etwa 1600 Euro mehr gekostet hat als ein Flug, vor allem weil ich viel Geld für Visa ausgeben musste. Einige von ihnen sind sehr teuer. Aber es zeigt sich, dass langsames Reisen, Reisen auf dem Boden, zehnmal weniger umweltbelastend ist als Fliegen, was einen großen Unterschied macht.

Aber warum schlägt sich das nicht in den Flugpreisen nieder?

Erstens zahlen wir immer noch keine Steuern auf den Treibstoff von Flugzeugen. Und das zweite hat damit zu tun, dass man kein Geld für die Infrastruktur bezahlen muss. Natürlich gibt es den Flughafen, aber es gibt keine Schienen. Letztere gehören einem Unternehmen, und damit ist klar, wer sich um die Infrastruktur kümmern muss. Im Falle der Flugzeuge haben Sie die Luft, die Atmosphäre, und natürlich wird diese Infrastruktur durch die Verschmutzung aufgrund der Treibhausgasemissionen stark in Mitleidenschaft gezogen, aber sie ist ein öffentliches Gut und niemand zahlt dafür. Viele Ökonominnen und Ökonomen schlagen die Idee einer Kohlenstoffsteuer vor, auch um diese Kosten zu internalisieren, aber da die Kosten nicht speziell ein Land schädigen, werden sie nicht besteuert. Es gibt ein Problem bei der Zurechnung des öffentlichen Gutes.

Wir haben es hier also mit einem Marktversagen und einem Mangel an Kooperation auf internationaler Ebene zu tun. Was können Ökonominnen und Ökonomen dagegen tun?

Mit experimenteller Ökonomie versuchen wir herauszufinden, unter welchen Bedingungen die Menschen zur Zusammenarbeit bereit sind. Und wir haben Fortschritte gemacht, weil wir die Theorie der direkten und indirekten Reziprozität aufgestellt haben. Die Mitglieder einer Gemeinschaft beobachten sich also gegenseitig, und wenn sie sehen, dass ich einer anderen Person etwas Gutes tue, wird die beobachtende Person irgendwann auch mir etwas Gutes tun. In einem unserer Experimente, das wir mit Studierenden aus verschiedenen Ländern durchgeführt haben, konnten wir zeigen, dass Gruppen, die auf nationaler Ebene gut zusammenarbeiten, auch die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene beeinflussen können. Ich war wirklich erstaunt, dass sich diese Form der guten Zusammenarbeit ausbreiten kann. Das deutet darauf hin, dass in der internationalen Zusammenarbeit Menschen, die gut zusammenarbeiten, diese Norm der Zusammenarbeit auch auf andere übertragen können.

Interview: Kathrin Haimerl

Während seines Aufenthalts an der Universität Passau wird Dr. Gianluca Grimalda in Veranstaltungen auch über seine Forschung berichten. Bitte informieren Sie sich auf der PICAIS-Webseite dazu. Wenn Sie mit Dr. Grimalda in Kontakt treten wollen, schreiben Sie bitte dem PICAIS Büro via picais-office@uni-passau.de

Mehr Informationen zu den Themen, die Dr. Grimalda im Interview anspricht:

Engel, C. (2011). Dictator games: A meta study. Experimental economics, 14, 583-610.

Fischbacher, U., Gächter, S., & Fehr, E. (2001). Are people conditionally cooperative? Evidence from a public goods experiment. Economics letters, 71(3), 397-404.

Berg, J., Dickhaut, J., & McCabe, K. (1995). Trust, reciprocity, and social history. Games and economic behavior, 10(1), 122-142.

Johnson, N. D., & Mislin, A. A. (2011). Trust games: A meta-analysis. Journal of economic psychology, 32(5), 865-889.

Bowles, S., & Gintis, H. (2002). Homo reciprocans. Nature, 415(6868), 125-127.

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