Das Gebäude des Europäischen Parlaments in Straßburg. Symbolfoto: Colourbox
Wenn ein EU-Mitgliedsland den Rechtsstaat untergräbt, geht ein Riss durch die europäische Demokratie. Ein eindrückliches Beispiel dafür kam auf dem "Online Round Table on Democracy 2023" aus dem Publikum, als sich Eszter Nagy digital aus Budapest zu Wort meldete.
Bei dem "Round Table on European Democracy" handelt es sich um ein digitales Veranstaltungsformat, das der Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik der Universität Passau und die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gemeinsam mit der Union Europäischer Föderalisten und der Spinelli-Gruppe im Europäischen Parlament gestartet haben. Das Ziel: Studierende, Abgeordnete sowie Expertinnen und Experten europaweit digital zusammenzubringen und die Entwicklungen der europäischen Demokratie forschungsgetrieben und kritisch zu begleiten. Inzwischen hat sich das universitäre Netzwerk erweitert. Es beteiligen sich auch die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, die Europa-Universitäten Viadrina und Flensburg sowie die Universitäten Innsbruck, Paderborn und Wien.
Die Inhalte des aktuellen Round Tables hat der Politikwissenschaftler Julian Plottka, Mitarbeiter an den Universitäten Passau und Bonn, in einem Seminar zusammen mit Julia Çetinkaya von der Universität Magdeburg und Studierenden aus Passau, Bonn und Magdeburg entwickelt. Per Wettbewerb unter Studierenden wählten sie das Moderationsteam aus. Marei Zizelmann, die an der Universität Passau Staatswissenschaften studiert, moderierte die Veranstaltung zusammen mit Federico Campatelli, Student der Europawissenschaften an der Universität Magdeburg. Thema des Round Tables: „Die europäische Demokratie in Gefahr – wie lässt sich die Resilienz der europäischen Demokratie gegen interne und externe Herausforderungen stärken?“
Podium des "Online Round Table on Democracy 2023": Julia Çetinkaya (Universität Magdeburg), studentischer Moderator Federico Campatelli (Universität Magdeburg), studentische Moderatorin Marei Zizelmann (Universität Passau), Dr. Maria Skóra (Institut für Europäische Politik in Berlin), Christian Moos (Generalsekretär der Europa-Union Deutschland) und Jurgis Vilčinskas (Leiter der Strategischen Kommunikation des Europäischen Auswärtigen Diensts).
Schutz vor Manipulation von außen
"Gerade mit Blick auf die Europawahlen 2024 ist es wichtig, neue Instrumente zu entwickeln, die unsere liberalen Demokratien stärken und schützen", erklärt Plottka. Das bestätigte auch Europaparlamentarier Sandro Gozi von der Fraktion Renew Europe, der zu Beginn des Runden Tischs zugeschaltet war: "Wir müssen uns und unsere Bürgerinnen und Bürger vor Manipulationen durch andere Staaten schützen. Dazu zählen Russland und China. Aber auch die Türkei, Saudi-Arabien, Katar und Venezuela haben aktiv versucht, unsere demokratischen Systeme anzugreifen."
Doch die Gefahr kommt nicht nur von außen. Was passiert, wenn ein Mitgliedstaat EU-Werte untergräbt, schilderte Eszter Nagy, die im Publikum des Webinars saß und sich aus Budapest zuschaltete. Sie ist Präsidentin der ungarischen Sektion der Europäischen Föderalisten. "Mehr als 90 Prozent der ungarischen Medien sind dominiert von der staatlichen Propaganda, die auch russische Propaganda verbreitet. Diese wird direkt im Staatsfernsehen gesendet", berichtet sie. Umfragen zeigten den Effekt auf das Denken der Bürgerinnen und Bürger: "Viele glauben, dass die USA für den russischen Angriffskrieg verantwortlich seien."
EU zu passiv in Ungarn?
Nagy kritisierte die Europäische Union, die aus ihrer Sicht zu passiv sei im Umgang mit Anti-EU-Kampagnen in ihrem Land. "Es gibt in Ungarn massive Plakat-Kampagnen gegen Sanktionen aus Brüssel, die EU wird ständig attackiert", erzählt sie. "Wir haben in Ungarn eine pro-europäische Bevölkerung. Aber wenn sie derart bearbeitet wird, besteht die Gefahr, dass diese Haltung schwindet." Die EU müsse unabhängige Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen stärken, sie müsse ihrerseits mit pro-europäischen Kampagnen antworten, so ihre Forderung.
Theoretisch verfügt die EU über Instrumente zum Schutz ihrer Werte. Dazu zählt etwa das Sanktionsverfahren, das in Artikel 7 im Vertrag über die Europäische Union festgelegt ist. Wie denn der aktuelle Stand in diesem Verfahren gegen Ungarn und Polen ist, wollte ein Teilnehmer aus dem Publikum wissen. Es antwortete Dr. Maria Skóra, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik in Berlin, die zu dem Thema forscht und zudem auch einen persönlichen Bezug hat, da sie ursprünglich aus Polen kommt.
Sie stellte zunächst klar, dass Ungarn und Polen mit der Verletzung rechtsstaatlicher Grundlagen wie der Gewaltenteilung, der Medienfreiheit sowie der Unabhängigkeit der Justiz die Problemkinder der EU seien und damit auch die Demokratie in Europa gefährden, denn: "Sie brechen damit den Schwur auf die europäischen Werte, den sie beim Beitritt gegeben haben."
„Die Gründungsväter der EU wären schockiert angesichts des ‚democratic backsliding‘, von dem Rückbau der demokratischen Strukturen, vor dem wir heute stehen.“
Maria Skóra, Institut für Europäische Politik, Berlin
Sie betonte aber auch: "Es ist nicht die primäre Aufgabe der EU, sich mit diesen Trends in den Mitgliedstaaten zu befassen." Vielmehr sei das Aufgabe der Mitgliedstaaten, die von der Kommission angemahnten Verstöße zu korrigieren. Die ursprüngliche Idee sei gewesen, dass Artikel 7 vor allem über Abschreckung Wirkung entfalte. Aber: "Die Gründungsväter der EU wären schockiert angesichts des ‚democratic backsliding‘, von dem Rückbau der demokratischen Strukturen, vor dem wir heute stehen." Insofern sei es gut gewesen, dass die Europäische Kommission auf weitere Verletzungen schnell reagierte, wie im Fall des polnischen Anti-Oppositions-Gesetzes und des ungarischen Anti-LGBT-Gesetzes.
Christian Moos, dem Generalsekretär der Europa-Union Deutschland und Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss,gehen die Verfahren nicht weit genug. Er forderte in einem Beitrag für das Online-Portal euractiv.de einen Ausschluss Ungarns als EU-Mitglied, denn das Land sei inzwischen nicht nur ein schwieriges EU-Mitglied, sondern zu einem hohen Sicherheitsrisiko geworden. "Wo die Rechtsgrundlagen in den Verträgen fehlen, müssen außerhalb der Verträge Lösungen gefunden werden." Im Round Table argumentiert er, dass es die Zivilgesellschaft sei, die die Demokratie trägt: "Starke demokratische Parteien, starke Gewerkschaften, starke Nichtregierungsorganisationen. Demokratie ist, wo Menschen Demokratie leben, sich engagieren."
Der Schlüssel zu resilienten Demokratien liege ebenfalls in der Zivilgesellschaft. Jurgis Vilčinskas, stellvertretender Leiter der Strategischen Kommunikation des Europäischen Auswärtigen Diensts, sieht gerade hier auch die Stärke der demokratischen Systeme: "Wir haben sehr viel Kraft, uns neu zu erfinden."
Prof. Dr. Daniel Göler
Wohin entwickelt sich die Europäische Union?
Wohin entwickelt sich die Europäische Union?
Prof. Dr. Daniel Göler hat an der Universität Passau den Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik inne. Im Zentrum seiner Forschungsarbeit stehen sämtliche Belange der Europäischen Integration. Internationale Wissenschaftsvernetzung ist dabei selbstverständlich. Zugleich bietet der Lehrstuhl der breiten Bevölkerung Zugang zu europapolitischen Themen, in Form von öffentlichen Veranstaltungen und der Passauer Jean-Monnet-Papiere.