„Deutschland hat durchaus Stärken in den Produktionstechnologien sowie den Bio- und Lebenswissenschaften“, erklärt Prof. Dr. Carolin Häussler von der Universität Passau und Mitglied der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI). Die Kommission unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Uwe Cantner von der Universität Jena hat heute das Jahresgutachten an Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger in Berlin übergeben:
Die zunächst Ende Februar angesetzte Übergabe musste aufgrund der aktuellen politischen Lage verschoben werden. In dem Gutachten nimmt die Kommission die Stärken und Schwächen Deutschlands bei Schlüsseltechnologien in den Blick und mahnt dringenden politischen Handlungsbedarf an.
Als „ernsthaft kritisch“ bewertet die EFI laut Prof. Dr. Häussler, dass „Deutschland im Bereich der digitalen Technologien deutliche Schwächen zeigt, wie auch die gesamte EU“. Damit riskiere Deutschland mit seinen europäischen Partnern nicht nur den Anschluss an einen ökonomisch immer bedeutsamer werdenden Technologiebereich zu verlieren, sondern gefährde auch bestehende Stärken in anderen Bereichen. „Die Ausstrahlwirkung der digitalen Technologien in die anderen Schlüsseltechnologien ist enorm. Hier Schwächen zu haben bedeutet, unsere Stärken zu riskieren“, warnt Prof. Dr. Häussler in der Presseinformation der EFI-Kommission zum Thema Schlüsseltechnologien und technologische Souveränität.
Was die EFI-Kommission der Politik empfiehlt, welche weiteren Themen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler umtreiben und ob die Politik auf die Ratschläge hört, darüber spricht die Passauer Professorin im Video-Interview:
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Das Video-Interview führten wir im Februar 2022 vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Wir dokumentieren es an dieser Stelle in gekürzter und aktualisierter Fassung:
Welche Themen treiben die EFI-Kommission im Jahresgutachten 2022 ganz besonders um?
„Wir sollen ja die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands beurteilen und mitunter auch den Finger in die Wunde legen bei Themen, von denen wir denken, dass sie sehr wichtig sind und wo wir nochmals genau hinschauen müssen. In diesem Jahr sind dies vier Themen: zum einen die Schlüsseltechnologien und technologische Souveränität. Das ist wichtig, wenn wir etwa an die Lieferketten-Engpässe denken und auch an einseitige Abhängigkeiten von Ländern. Gerade in diesen Zeiten ist ganz wichtig, genau hinzuschauen, von wem wir abhängig sind. Das zweite Thema ist der motorisierte Individualverkehr auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, für Deutschland als Auto-Nation natürlich auch bedeutend, in der wir alle leben, und das vierte die Transformation im Gesundheitswesen, die uns alle betrifft.“
Stichwort Schlüsseltechnologien – was sind die wichtigsten Erkenntnisse und was raten Sie der Ampel-Koalition?
„Deutschland hat Stärken im Bereich der modernen Produktionstechnologien und im Bereich der Bio-Lebenswissenschaften. Allerdings werden auch deutliche Schwächen sichtbar und zwar vor allem im Bereich der digitalen Schlüsseltechnologien. Das ist ein Problem, weil diese digitalen Schlüsseltechnologien in andere Technologie-Bereiche hineinwirken.
Wir empfehlen, in Bezug auf die Schlüsseltechnologien sehr viel strategischer vorzugehen. Im Vergleich zu China und den USA stehen wir da erst am Anfang.
Nehmen wir Steuerungschips. Sie sind unersetzlich im Bereich der modernen Produktionstechnologien, genauso wie im Bereich der Smart-Home-Anwendungen oder bei Mobilitätskonzepten und Energiekonzepten. Wenn wir also in den digitalen Schlüsseltechnologien Schwächen aufweisen, dann gefährden wir unsere Stärken in den anderen Bereichen. Außerdem fällt auf, dass wir in fünf von sechs Einzeltechnologien hauptsächlich aus China beziehen. China ist unser wichtigstes Herkunftsland. Wir sind da natürlich ein Stück weit abhängig.
Wir empfehlen, in Bezug auf die Schlüsseltechnologien sehr viel strategischer vorzugehen. Im Vergleich zu China und den USA stehen wir da erst am Anfang und müssen erst einmal die Voraussetzungen schaffen, also etwa ein kontinuierliches Monitoring von zukünftigen Schlüsseltechnologien oder ein unabhängiges Beratungsgremium auf Bundesebene sowie mehr deutsche Akteure in den Standardisierungsgremien. Wir haben tolle Forschung, aber wir müssen schneller in die Anwendung zu kommen. Das Ganze sollten wir europäisch denken, denn Deutschland wird nur eine Spitzenposition erreichen im Verbund mit der EU. Zudem müssen wir mehr denn je genau hinschauen, wer verlässliche Partner sind und unbedingt diversifizieren, also auf mehrere Partner bei wichtigen Technologien setzen.“
Zum Kapitel im EFI-Gutachten 2022: Schlüsseltechnologien und technologische Souveränität
Kommen wir zur Mobilität – welche Empfehlungen geben Sie hier ab?
„Dem Verkehr kommt bei der Reduktion der Treibhausgasemissionen eine ganz wichtige Rolle zu. Wir haben uns verschiedenen Antriebsarten angesehen - vom Elektroauto über den Plugin-Hybrid bis hin zur Brennstoffzelle. Das elektroangetriebene Fahrzeug ist die sowohl ökologischste als auch die ökonomischste Alternative. Große Chancen sehen wir auch im Bereich autonomes Fahren, in Bezug auf Reduktion der Emissionen und auf moderne Verkehrskonzepte. Doch hierfür müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, damit diese Konzepte schnell anlaufen.“
Zum Kapitel im EFI-Gutachten 2022 "Motorisierter Individualverkehr auf dem Weg zur Nachhaltigkeit"
Digitale Plattform-Ökonomie und die Transformation im Gesundheitswesen – was sagt die EFI-Kommission zu diesen Themen?
„Wir leben alle in einer Plattform-Ökonomie, wir nutzen meist die Internet-Giganten – allerdings haben wir im Business-to-Consumer-Bereich bislang keinen europäischen Internet-Giganten. Wir hoffen, das im Bereich Business-to-Business zu ändern. Und hier haben wir auch ganz gute Ausgangsbedingungen. Wir haben einen starken Mittelstand, wir haben viele Hidden Champions, wir sehen auch einige ganz spannende Plattformen. Die Frage ist, wie schaffen wir es, dass sich mehr Unternehmen für die Plattform-Ökonomie interessieren? Wenn man die Unternehmen nach Hemmnissen fragt, dann nennen sie drei: Datenschutz, IT-Sicherheit und die Angst, innovationsrelevantes Wissen an den Wettbewerber zu verlieren. Das bezieht sich vor allem auf Kundendaten. Da stellt sich die Frage: Wo liegen diese denn? Liegen die in Deutschland, Europa oder liegen die auf Servern, Clouds in ganz anderen Ländern? Wir brauchen europäische Datenräume, wir brauchen mehr Anreize zum Datenteilen, wir brauchen eben auch hier die richtigen Rahmenbedingungen.
Wenn wir mehr Daten haben, können wir natürlich die Medizin verbessern.
Im Gesundheitswesen ergeben sich enorme Chancen durch die Digitalisierung. Wenn wir mehr Daten haben, können wir natürlich die Medizin verbessern. Wir haben genau dafür moderne Analyse-Verfahren. In anderen Ländern kommen die Menschen auch schon in den Genuss von stärkerer, personalisierter Medizin. Bei uns läuft leider die elektronische Patientenakte schleppend an. Da sind wir bei den Schlusslichtern. Das müssen wir dringend ändern. Dazu gehört – natürlich immer unter Wahrung des Datenschutzes, dass man Anreize schafft, dass Daten geteilt werden.“
EFI-Gutachten 2022 zu Innovationen in der Plattformökonomie und zur Digitalen Transformation im Gesundheitswesen
Wie kam es dazu, dass Sie Mitglied der EFI-Kommission wurden?
„Dafür gibt es keine Ausschreibung, auch kein Bewerbungsverfahren, also man kann sich nicht einfach bewerben. Letztendlich wird man von der Bundesregierung ausgewählt. Sie sichtet verschiedene Innovationsökonominnen und -ökonomen. Und dann bekommt man einen Anruf, ob man Teil dieser Expertenkommission sein möchte. Das ist natürlich eine sehr große Ehre, gleichsam aber auch sehr viel Verantwortung, weil es Innovationspolitik-Beratung auf sehr hoher Ebene ist.“
Wie sieht Ihre Arbeit in der Kommission konkret aus?
„Wir sind sechs Professorinnen und Professoren in der EFI-Kommission und wir machen evidenzbasierte Politikberatung. Wir haben Spezialthemen, bei denen wir uns natürlich von Expertinnen und Experten zuarbeiten lassen. Wir vergeben Studien, führen viele Fachgespräche, Kamingespräche, wir reisen auch ab und an, um uns gewisse Entwicklungen vor Ort anzuschauen, etwa wenn ein Land in einer Technologie besonders weit vorne ist. Wir treffen uns regelmäßig, jeder kennt jeden Satz im Gutachten, weil wir eben viel diskutieren und auch debattieren. Einmal im Jahr haben wir die große Gutachtenübergabe an den Kanzler oder in den vergangenen Jahren an die Kanzlerin. Wir geben aber auch Policy Briefs raus zu wichtigen Themen, beispielsweise im letzten Jahr, im Wahljahr, zur Forschungs- und Innovations-Governance, sowie auch zum Zuschnitt der Ministerien beispielsweise der neuen Bundesregierung.“
Mein Eindruck ist, dass die Parlamentarierinnen und Parlamentarier das Gutachten schon sehr genau lesen, sowohl jene auf der Regierungsbank, als auch in der Opposition.
Und, hört die Politik auf Sie?
„Wir übergeben unser jährliches Gutachten ja dem Bundeskanzler. Nur in diesem Jahr hat genau am Tag der Übergabe der Krieg in der Ukraine begonnen, daher mussten wir verschieben. Zudem stellen wir das Gutachten auch in den Ministerien vor. Es wird darüber auch in einigen Bundestagsausschüssen debattiert, in denen wir Rede und Antwort stehen. Mein Eindruck ist, dass die Parlamentarierinnen und Parlamentarier das Gutachten schon sehr genau lesen, sowohl jene auf der Regierungsbank, als auch in der Opposition. Wir haben viele Impulse gegeben und vieles davon wurde auch umgesetzt, also beispielsweise das Ziel, wonach 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investiert wird, die steuerliche Forschungszulage, die vor allem mittelständische Unternehmen in Bezug auf ihrer Innovationsaktivitäten fördert oder auch die ins Leben gerufene Agentur für Sprunginnovationen. Das heißt, wir haben Einfluss, das bringt diese Kommission mit sich, das ist schön und gleichzeitig auch viel Verantwortung. Und es ist auch sehr viel Arbeit, aber ich habe es bislang noch keine Sekunde bereut.“
Prof. Dr. Carolin Häussler
Wie können wir die Innovationskraft fluider Organisationen nutzen und stärken?
Wie können wir die Innovationskraft fluider Organisationen nutzen und stärken?
Prof. Dr. Carolin Häussler ist seit 2011 Inhaberin des Lehrstuhls für Organisation, Technologiemanagement und Entrepreneurship und DFG-Vertrauensdozentin an der Universität Passau. Sie ist außerdem Projektleiterin im DFG-Graduiertenkolleg 2720: "Digital Platform Ecosystems (DPE)" an der Universität Passau. Sie ist Mitglied der Expertenkommission Forschung und Innovation der Bundesregierung. Mit dem International Center for Economics and Business Studies lockt sie Forscherinnen und Forscher aus aller Welt nach Passau.
Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) mit Sitz in Berlin leistet seit 2008 wissenschaftliche Politikberatung für die Bundesregierung und legt jährlich ein Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands vor. Wesentliche Aufgabe der EFI ist es dabei, die Stärken und Schwächen des deutschen Innovationssystems im internationalen und zeitlichen Vergleich zu analysieren und die Perspektiven des Forschungs- und Innovationsstandorts Deutschland zu bewerten. Auf dieser Basis entwickelt die EFI Vorschläge für die nationale Forschungs- und Innovationspolitik.
In den Medien
- Wie abhängig ist Deutschland von China bei digitalen Schlüsseltechnologien? Interview mit Prof. Dr. Carolin Häussler im Update Wirtschaft von tagesschau24 (1.4.2022)
- EU-China-Gipfel: Ist Deutschland zu abhängig? Interview mit Prof. Dr. Carolin Häussler im Deutschlandfunk (1.4.2022)
- Handel mit China: Das ewige Problem der Abhängigkeit - Bericht von tagesschau.de mit einer Einschätzung von Prof. Dr. Carolin Häussler (1.4.2022)