Dr. Eunike Piwoni forscht und lehrt seit Februar 2020 an der Universität Passau am Lehrstuhl für Soziologie. Sie promovierte als Stipendiatin in einem DFG-Graduiertenkolleg an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg zum Thema „Nationale Identität im Wandel. Deutscher Intellektuellendiskurs zwischen Tradition und Weltkultur”. Sie war mehrere Jahre als Akademische Rätin an der Georg-August-Universität Göttingen tätig und absolvierte Forschungsaufenthalte an der University of London und an der Columbia University in New York. Im April startet ihr neues DFG-Projekt „Experiencing Ethnoracial Exclusion“ zum Thema „Affektive und emotionale Dimensionen und Dynamiken von (Nicht‑)Zugehörigkeit und dem Erfahren ethnorassischer Exklusion“. Anlässlich des Internationalen Tags gegen Rassismus, der jedes Jahr am 21. März begangen wird, haben wir sie befragt, was sie in dem neuen Projekt vorhat.
Was ist ethnorassische Exklusion?
Eunike Piwoni: Es handelt sich dabei um einen Fachbegriff aus der angloamerikanischen, internationalen Migrationssoziologie, in die meine Forschung eingebettet ist. Der Begriff erfasst alle Arten von Stigmatisierungen, Ausgrenzungen, und Diskriminierungen, die Menschen aufgrund ihrer Ethnizität, Nationalität, oder Herkunft machen. Dazu zählt auch rassistische Diskriminierung.
In meinem neuen DFG-Projekt lege ich den Fokus darauf, wie diese Exklusion erfahren wird. Es geht mir also nicht darum, ob das, was Menschen als Ausgrenzung aufgrund ihrer Herkunft empfinden, „objektiv“ als Diskriminierung oder Rassismus zu verstehen ist, sondern um die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen und die Konsequenzen, die sich aus dieser Wahrnehmung ergeben. Das heißt, ich interessiere mich für die Betroffenenperspektive. Das Spektrum an Erfahrungen, über das wir hier sprechen, reicht von ethnischen Sprüchen und Witzen über die Frage danach, woher jemand denn wirklich käme, über Verweigerung von Bildungschancen bis hin zu tätlichen Angriffen.
Wie wirkt sich das auf die Betroffenen aus?
Piwoni: Wir wissen aus der Forschung, dass Erfahrungen dieser Art alles andere als harmlos sind und unter anderem Folgen für das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit haben. Die quantitative Migrationssoziologie zeigt, dass Erfahrungen von Diskriminierung, Stigmatisierung und Rassismus der identifiktionalen Integration von Zugewanderten im Wege steht, also ihrer vollen Identifizierung mit Deutschland. Verständlicherweise, wie man hinzufügen muss. Übrigens weiß man aus der Forschung auch, dass dieser Effekt für hoch gebildete Migrant*innen der zweiten Generation sogar noch größer ist als für die erste Generation von Zuwanderern, wahrscheinlich weil ihre Ansprüche höher sind, also der Anspruch auf Gleichbehandlung, aber auch ihr Bewusstsein für exkludierende, massenmedial vermittelte Diskurse.
Dieses Phänomen nennen wir in der Soziologie Integrationsparadoxon. In klassischen Theorien der Migrationssoziologie geht man nämlich davon aus, dass mit der Annahme der Staatsbürgerschaft, einem hohen Bildungsstand und der Aufnahme von Arbeit auch die Integration befördert wird. Weil das aber für die identifiktionale Integration nicht unbedingt der Fall sein muss, spricht man in der Forschung von einem Paradox. Es gibt auch Studien, die zeigen, dass die Erfahrung von Diskriminierung in der zweiten Generation zu einer Re-Ethnisierung führen kann, also einer verstärkten Identifikation mit dem Herkunftsland der Eltern. Erfahrungen von ethnorassischer Exklusion haben also massive Konsequenzen für Gefühle von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zur Gesellschaft — und damit für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft, in der mittlerweile ein Viertel aller Menschen einen Migrationshintergrund haben.
Man kann davon ausgehen, dass Affekte und Emotionen, und zwar negativer Natur, diese Erfahrungen nicht nur begleiten, sondern konstituieren.
Dr. Eunike Piwoni, Universität Passau
Welche Gefühle lösen Erfahrungen von Ausgrenzungen aus?
Piwoni: Man kann davon ausgehen, dass Affekte und Emotionen, und zwar negativer Natur, diese Erfahrungen nicht nur begleiten, sondern konstituieren. Dazu zählen Angst, Furcht, Unsicherheit, Unwohlsein und Traurigkeit. Anders gesagt: Noch bevor ich weiß, also kognitiv erfasst habe, dass ich diskriminiert, rassistisch angegangen werde, fühle ich es und muss dann ja auch mit diesen Affekten umgehen, eventuell Emotionsarbeit machen, insbesondere wenn ich meinen Gefühlen gerade keinen freien Lauf lassen kann. Und diese Emotionsarbeit passiert übrigens nicht in einem Vakuum, sondern entlang von spezifischen Gefühlsregeln, die kulturell und gesellschaftlich konstruiert sind.
Wie unterscheiden sich Affekte von Emotionen?
Piwoni: Im wissenschaftlichen Diskurs gibt es sehr verschiedene Definitionen und „Verwendungen“ der Begriffe — im Laufe der Jahre hat sich aber ein gewisser Minimalkonsens in der Emotionssoziologie herauskristallisiert. Diesem Minimalkonsens entsprechend zielt der Begriff Affekt auf die vorsprachliche Ebene ab. Eigentlich sind wir alle immer, egal wo wir uns befinden oder was wir machen, in einem Modus oder Zustand von Affekt, auch wenn wir das nicht immer, oder sogar meistens nicht, wahrnehmen.
Man kann es vielleicht so erklären: Ich betrete einen Raum und werde aufgrund der Gespräche, die in diesem Raum geführt werden, der Personen, die da sind, der Lichtverhältnisse und der Architektur von Affekten erfasst, ich werde affiziert — ob ich will, oder nicht. Dann kann ein Moment kommen, in dem ich diese Affekte bewusster wahrnehme und spüre, dass ich etwas fühle. Wenn ich dann noch nach Wörtern suche, um das Gefühl in mir zu beschreiben und für mich alleine oder nach außen formuliere: „Ich fühle mich hier unwohl, ich habe Angst“, dann ist aus dem Affekt eine Emotion, nämlich Angst, geworden.
Wenn diese Menschen, die als perfekt integriert gelten, Erfahrungen solcher Art machen und in der Folge affektive Distanz spüren, dann haben wir ein Problem mit unseren klassischen theoretischen Annahmen zum ,Ablauf' und den Voraussetzungen gelungener Integration.
Emotionen sind also abhängig von sprachlichen Hüllen, bestehen aber aus affektiven Bestandteilen, die dann in kulturell und linguistisch etablierte Kategorien sortiert werden. Diese Kategorien stellen uns die Gesellschaft und die Sprache zur Verfügung.
Und wie gehen Sie in Ihrem Projekt methodisch vor?
Piwoni: In meiner Studie untersuche ich die Exklusionserfahrungen von Angehörigen der zweiten Generation, die also entweder als Kind nach Deutschland kamen oder deren Eltern zugewandert sind. Ich habe Gruppen gewählt, deren Erfahrungen mit dem Thema recht unterschiedlich sein dürften: Deutsche mit türkischem und polnischem Hintergrund sowie Schwarze Deutsche.
Die Idee dahinter ist: Wenn diese Menschen, die als perfekt integriert gelten, Erfahrungen solcher Art machen und in der Folge affektive Distanz spüren, dann haben wir ein Problem mit unseren klassischen theoretischen Annahmen zum „Ablauf“ und den Voraussetzungen gelungener Integration.
Mit den Teilnehmenden führe ich individuelle Tiefeninterviews. Geplant sind zudem Fokusgruppeninterviews, um die Emotionsarbeit der Betroffenen zu untersuchen, also wie sie mit den wahrgenommenen Gefühlen umgehen, diese benennen und sie im Gespräch mit anderen aushandeln. Außerdem sollen die Teilnehmenden in Audiotagebüchern Situationen dokumentieren, in denen sie mit ihrem Migrationshintergrund konfrontiert wurden, positiv wie negativ, und diese dann beschreiben und bewerten.
Inwiefern profitieren Sie bei Ihrer Forschung von der Anbindung an den Lehrstuhl von Frau Professorin Stögner?
Piwoni: Der Lehrstuhl von Frau Stögner hat ja einen ganz expliziten Fokus auf den Themen Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus — und erforscht damit die Ideologien, die dazu führen, dass meine Interviewten die Erfahrungen machen, die sie machen. Das sind, wenn man so will, die gesellschaftlichen Makrofaktoren, die natürlich einen Einfluss darauf haben, was auf der Mikroebene erlebt, empfunden, erfahren wird. In unseren Kolloquien sieht man jedes Mal aufs Neue, wie sich die verschiedenen methodischen und theoretischen Perspektiven ergänzen und man sich gegenseitig inspiriert. Abgesehen davon ist die Stimmung im Lehrstuhlteam einfach großartig. Gerade wenn man alleine in einem Projekt forscht, ist es ungemein hilfreich, in ein Team eingebunden zu sein, das einem solch wertvolle Impulse gibt und einen auch in schwierigen Projektphasen motiviert.