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"Wir wissen zu wenig über das Dunkelfeld des Antisemitismus"

Der Politologe Prof. Dr. Lars Rensmann ist einer der beiden Leiter der großen NRW-Dunkelfeldstudie zu Antisemitismus. Im Interview erklärt er, was das Besondere an der Studie ist und warum sie über das Land hinaus Bedeutung haben wird.

Holocaust-Mahnmal in Berlin. Foto: Adobe Stock

Eine „Dunkelfeldstudie“ in Nordrhein-Westfalen soll die Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen und Ressentiments in der Gesellschaft beleuchten. Das haben NRW-Innenminister Herbert Reul und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Antisemitismus-Beauftragte des Landes, bekanntgegeben. Prof. Dr. Lars Rensmann, Politologe an der Universität Passau, leitet die Studie gemeinsam mit dem Soziologen Prof. Dr. Heiko Beyer von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Prof. Dr. Rensmann beschäftigt sich in seiner Forschung unter anderem global vergleichend mit Autoritarismus, Antisemitismus, Populismus und Rechtsradikalismus. 

Wie sehen modernisierte Formen des Antisemitismus aus?

Prof. Dr. Lars Rensmann: Modernisierter Antisemitismus äußert sich heute besonders in drei Formen: Das ist zum einen die Holocaust-Relativierung, also das Bedürfnis, den Holocaust zu erwähnen, herunterzuspielen und über die Abwertung der Holocaust-Erinnerung das Andenken an die jüdischen Opfer zu verunglimpfen und darüber Ressentiments und Diskriminierungen gegenüber Jüdinnen und Juden zu artikulieren. Das zweite sind neue Formen von Verschwörungsmythen. Vom Verschwörungsdenken zum Antisemitismus als Deutungsfolie ist es seit je her nur ein kleiner Schritt: Wer verschwörungsideologisch denkt, landet am Ende oft nicht nur bei Bill Gates, sondern auch bei Jüdinnen und Juden. Die dritte Form ist israelbezogener Antisemitismus, also die Artikulation antisemitischer Ressentiments mittels des Verweises auf Israel und des Hasses auf die Existenz des jüdischen Staates. Alle drei Formen sind im Grunde nicht neu. Antisemitismus ist etwa seit der Antike der Verschwörungsmythos schlechthin, und schon die Nationalsozialisten verstanden sich als Antizionisten. Doch diese drei Modernisierungspfade scheinen es vielfach und in immer neuen Ausdrucksweisen zu ermöglichen, Antisemitismus zu artikulieren, ohne als Antisemitismus verstanden zu werden und ohne dass sich Bürgerinnen und Bürger selbst als Antisemiten verstehen.  Neu ist auch, dass in dem halb-öffentlichen Raum der sozialen Medien und durch jene Medien die Hemmschwelle sehr viel geringer geworden ist, solche Ressentiments zu artikulieren, die dann oftmals auch wieder in ganz offene Judenfeindschaft übergehen.

Mit unserer Studie wollen wir also nicht nur herausfinden, wie verbreitet Antisemitismus ist, sondern auch besser verstehen und erklären, welche Faktoren dazu beitragen, dass Bürgerinnen und Bürger für antisemitische Vorstellungen und Verschwörungsmythen empfänglich sind.

Prof. Dr. Lars Rensmann

Was ist eine Dunkelfeldstudie?

Rensmann: Der Begriff ist eine Adaption aus der kriminologischen Forschung: Dunkelfelder – das sind jene Bereiche, die in der amtlichen Statistik nicht auftauchen. Wir wissen tatsächlich immer noch zu wenig über das Dunkelfeld des Antisemitismus. Wir wissen zu wenig über das Vorkommen, die Ausprägungsformen sowie ihre Verankerung in unterschiedlichen Milieus, im Hinblick auf demographische Faktoren, aber auch darüber, wann die Bereitschaft steigt, antisemitische Ressentiments auszudrücken oder sich antisemitischen Haltungen anzupassen. Bisherige repräsentative Umfragen greifen häufig auf standardisierte Fragen zurück, die nicht ausreichend die modernen Formen des Antisemitismus erfassen. Wir wollen mit unserer Forschung situative Faktoren berücksichtigen und systematisch einbeziehen, dass sich Befragte oft im Sinne dessen äußern, was sie als sozial erwünscht und akzeptabel erachten. Mit unserer Studie wollen wir also nicht nur herausfinden, wie verbreitet Antisemitismus ist, sondern auch besser verstehen und erklären, welche Faktoren dazu beitragen, dass Bürgerinnen und Bürger für antisemitische Vorstellungen und Verschwörungsmythen empfänglich sind.

Prof. Dr. Lars Rensmann

Prof. Dr. Lars Rensmann. Foto: Universität Passau

Wie gehen Sie in der Forschung vor?

Rensmann: Wir nutzen sowohl klassische Befragungsinstrumente der repräsentativen Forschung, verknüpfen diese aber erstmals auch mit experimentellen Umfragedesigns, die es in der Sozialforschung gibt, bisher aber noch nicht in der Antisemitismusforschung eingesetzt worden sind. Dadurch erhoffen wir uns auch differenziertere und validere Ergebnisse. Wir arbeiten mit Forschungstools, die wir bereits in anderen Kontexten erprobt haben. Kern sind Interviews, die bei den Menschen zu Hause geführt werden, und die bis zu 45 Minuten dauern werden. Gerade sind wir dabei, die Fragen für diese Gespräche zu entwickeln. Wir wollen nicht nur Einstellungen abfragen, sondern mit der Anwendung neuer Methoden sowohl die Verbreitung als auch die Ursachen antisemitischer Einstellungen in unterschiedlichen sozialen und politischen Milieus genauer erfassen. Wir wollen auch testen, inwiefern die jeweilige Situation und der soziale Kontext eine Rolle spielen. Was, beispielsweise, wenn ein Influencer im Netz eine gewisse Meinung äußert? Oder wenn eine vermeintliche Mehrheit eine antisemitische Position vertritt? Verändert das die Haltung des oder der Befragten? Die Interviews werden auf repräsentativer Basis durchgeführt. Hier arbeiten wir mit einem Meinungsforschungsinstitut zusammen.

Ich glaube, dass einer der entscheidenden Faktoren sein dürfte, wie wir als Gesellschaft auf Antisemitismus und andere Formen der hate speech reagieren.

Prof. Dr. Lars Rensmann

Was erwarten Sie sich von der Studie?

Rensmann: In meinen bisherigen qualitativen Forschungen bestätigt sich folgendes Bild: Das legitim Sagbare spielt eine ganz große Rolle. Eine meiner Hypothesen ist, dass womöglich antisemitische Ressentiments in unterschiedlichen situativen Voraussetzungen mehr oder weniger Potential haben. Das heißt aber auch, dass man diese situativen Voraussetzungen institutionell so herstellen muss, dass sich Menschen, die solche Ressentiments haben, nicht ermutigt fühlen, diese zu äußern. Meiner Ansicht nach kommt es ganz zentral darauf an, dass bestimmte Dinge – nicht nur Antisemitismus, sondern auch Rassismus, Behindertenfeindlichkeit und andere Formen bedingungsloser Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit – einfach nicht akzeptabel sind, dass sie eben nicht Teil eines legitimen Gesprächs sind, dass es nicht okay ist, sich in einer Weise zu äußern, die andere Menschen kollektiv diskriminierend herabsetzt oder dämonisiert. Solche Äußerungen haben nichts mit freien Meinungsäußerungen zu tun. Sondern sie verunmöglichen die freie Rede unter Menschen. Ich glaube, dass einer der entscheidenden Faktoren sein dürfte, wie wir als Gesellschaft auf Antisemitismus und andere Formen der hate speech reagieren.

Welche Rolle spielen Rechtsaußen-Parteien bei der Erweiterung des legitim Sagbaren?

Rensmann: Rechtsradikale Parteien und autoritäre Populisten sind bedeutende Akteure in einer öffentlichen Polarisierungs- und Radikalisierungsdynamik, die solche Erosionsprozesse vorantreiben. Ein Beispiel für die Ausweitung des vermeintlich „legitimen“ öffentlichen Gesprächs kommt aus den USA, in denen ich viele Jahre gelebt habe: Ich hatte den Eindruck, ich verstehe dieses Land nicht mehr, als sich der autoritäre Populist Donald Trump im Wahlkampf über einen körperlich behinderten Journalisten lustig gemacht hat und dann auch noch die Präsidentschaftswahl 2016 gewann.

In vorangegangenen Studien habe ich rekonstruiert, dass es über Jahre hinweg eine Erosion der Diskursgrenzen im Bereich des Antisemitismus in Deutschland und Europa gegeben hat, an dem rechtsradikale Parteien entscheidend beteiligt waren—allerdings keineswegs nur rechtsradikale Akteure. 

Prof. Dr. Lars Rensmann

Einen Erosionsprozess sehen wir indes in vielen Ländern auch beim Antisemitismus. In vorangegangenen Studien habe ich beispielsweise rekonstruiert, dass es über Jahre hinweg eine Erosion der Diskursgrenzen im Bereich des Antisemitismus in Deutschland und Europa gegeben hat, an dem rechtsradikale Parteien entscheidend beteiligt waren—allerdings keineswegs nur rechtsradikale Akteure. Im vergangenen Jahr habe ich in einer Analyse gezeigt, dass etwa die Alternative für Deutschland antisemitische Ressentiments zur Mobilisierung ihrer Wählerschaft einsetzt. Es ist aber insgesamt zunehmend legitimer geworden, verdeckte, aber teils sogar ganz offen antisemitische Äußerungen in der Öffentlichkeit zu tätigen und bei Kritik solcher Äußerungen, sich als Opfer illegitimer Vorwürfe zu inszenieren.

Prof. Dr. Heiko Beyer (HHU, von links), Prof. Dr. Lars Rensmann (Universität Passau), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und NRW-Innenminister Herbert Reul bei der Vorstellung der Studie. Foto: Land NRW / Martin Götz

Prof. Dr. Heiko Beyer (HHU, von links), Prof. Dr. Lars Rensmann (Universität Passau), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und NRW-Innenminister Herbert Reul bei der Vorstellung der Studie. Foto: Land NRW / Martin Götz

Warum führen Sie die Studie in Nordrhein-Westfalen durch?

Rensmann: Das hat vor allem damit zu tun, dass das Land Nordrhein-Westfalen mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine sehr aktive Antisemitismus-Beauftragte hat. Sie hat dieses konkrete Projekt angestoßen und ermöglicht, unsere Forschungserfahrung einzubringen. Wir stehen auch in Kontakt mit Ludwig Spaenle, dem Antisemitismus-Beauftragten des Landes Bayern, um unsere wissenschaftliche Expertise hier an der Universität Passau in die Antisemitismusbekämpfung in Bayern einzubringen. Das Schaffen dieser Beauftragten in Bund, Ländern und Justiz in den vergangenen Jahren nehme ich im Übrigen als sehr positive Entwicklung wahr. Es freut mich, dass sie in ihrer Arbeit Wert auf wissenschaftliche Begleitung legen. Auf Basis der Erkenntnisse aus unserer Studie wollen wir Handlungsanweisungen entwickeln, wie verschiedene Institutionen und Bildungseinrichtungen Antisemitismus effektiv und nachhaltig bekämpfen können.

Interview: Kathrin Haimerl

Prof. Dr. Lars Rensmann

forscht zu Demokratiekrisen, Rechtspopulismus, Autoritarismus und Autokratisierung im globalen Vergleich

Welche neuen und alten Gefahren ergeben sich für die Demokratie im digitalen Zeitalter?

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Prof. Dr. Lars Rensmann ist seit dem Sommersemester 2022 Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vergleichende Regierungslehre. Davor war er Professor für Europäische Politik und Gesellschaft an der Universität Groningen, Associate Professor für politische Wissenschaft an der John Cabot University in Rom und DAAD Assistant Professor of Political Science an der University of Michigan. In seiner Forschung beschäftigt sich Prof. Dr. Rensmann u.a. global vergleichend mit Demokratiekrisen, Autoritarismus, Antisemitismus, Populismus und Rechtsradikalismus. Aktuell leitet er in Nordrhein-Westfalen eine "Dunkelfeldstudie", um die Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen und Ressentiments in der Gesellschaft zu beleuchten.

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