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Bildung neu gedacht

Im Projekt SKILL.de arbeitet ein interdisziplinäres Team an innovativen Ideen und Methoden für die Lehrkräftebildung. Digitale Lehrformate und neue didaktische Konzepte sollen Lehrkräfte dabei unterstützen, im Unterricht stärker auf die individuellen Fähigkeiten von Lernenden einzugehen. Von Nicola Jacobi

Wenn die Tür zu Raum NK 211 aufgeht, sieht es anders aus als in allen anderen Seminarräumen der Universität Passau. Zwischen den alten Gemäuern des ehemaligen Nikola-Klosters mit seinen großen Flügelfenstern und stuckbesetzten Decken stehen Möbel und Ausstattung, die hier wohl kaum jemand so erwartet: überall verteilt kleine dreieckige Tische, manche zu einem großen runden Konferenztisch zusammengeschoben, andere einzeln – je nachdem, ob für große Gesprächsrunden oder für die Arbeit in Kleingruppen. Flachbildschirme an den Wänden, flexible Stellwände, die als Raumteiler und Pinnwände gleichermaßen funktionieren, digitale Whiteboards sowie Tablets, Smartphones und Kameras verstaut in Einbauschränken. Nebenan in NK 212 ein ähnliches Bild: kleine, diesmal runde Tische, jeder mit einer kleinen Einkerbung versehen, zu verschiedenen Tischkombinationen aneinandergestellt. In einer Ecke eine Art Alkoven, eine mit türkisfarbenem Stoff überzogene Nische, in die sich Personen für diskretere Gespräche zurückziehen können. Dazu ein kleiner Nebenraum mit Medienarbeitsplätzen, um Filme, Bilder oder Tonaufnahmen zu bearbeiten. Und der ‚Cube‘, ein mit Glaswänden abgetrenntes Besprechungszimmer, das dank der hier vorhandenen Technik in einen Virtual-Reality-Raum verwandelt werden kann – mit Milchglas auf Knopfdruck.

Besprechung in DiLab Klassenraum

Foto: Universität Passau

Didaktischen Innovationslabore für individuelles Arbeiten

So wie dieser Raum sollen nach den Vorstellungen der Passauer Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Jutta Mägdefrau und ihres Lehrstuhlteams die Klassen- und Lehrerzimmer der Zukunft aussehen. Zumindest so ähnlich. Die Lehr- und Lernforscherin leitet gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Jan-Oliver Decker, Inhaber der Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Mediensemiotik, das Projekt SKILL.de an der Universität Passau. Ziele des Projektes sind: erstens Lehrformate entwickeln, die die Vermittlung digitaler und fachlicher Kompetenzen miteinander verknüpfen; zweitens Unterrichtsbausteine für Schulen und Hochschulen für digital unterstütztes Lehren und Lernen erarbeiten und drittens den Transfer in die Schulen gewährleisten. „Wir wollen angehende Lehrkräfte so frühzeitig wie möglich mit digitalen Technologien vertraut machen, damit sich die Hemmschwellen abbauen, digitale Medien im Unterricht einzusetzen“, erklärt Mägdefrau. Um die erarbeiteten Konzepte in der Praxis zu erproben, gibt es neben zahlreichen Partnerschulen ein begleitendes Schulkooperationsprojekt, an denen verschiedene Grund-, Mittel- und Realschulen sowie Gymnasien aus der Region teilnehmen. So können die Mitarbeitenden von SKILL.de gemeinsam mit den Lehrkräften vor Ort die Ergebnisse der universitären Arbeit testen und Feedback geben. Darüber hinaus haben Lehrkräfte die Möglichkeit, in die sogenannten DiLab der Universität zu kommen, die Didaktischen Innovationslabore, um sich fortzubilden.

Studierende im DiLab Klassenraum

Neue Konzepte entwickeln

Raum NK 211 ist so ein DiLab, das DiLab-Klassenzimmer, in NK 212 befindet sich das DiLab-Lehrerzimmer. Beide DiLabs unterstützen die Digitalisierungsstrategie der Universität Passau und wirken darauf hin, die Digitalisierung in der Lehrkräftebildung auszubauen und zu fördern. Das Klassenzimmer entstand im Rahmen des SKILL.de-Projektes, das DiLab-Lehrerzimmer im Rahmen des DigiLLab-Projekts. Daneben gibt es noch ein miniDiLab für kleine Gruppen, ein sogenanntes OER (Open Educational Ressources)-Lab für die Arbeit an OER-Produkten und -Prozessen sowie ein kleines Studio für Videoaufnahmen im Institutsgebäude der Universität Passau. In diesen Räumen werden die neuen Formate und Konzepte mit Lehramtsstudierenden erforscht, erarbeitet, erprobt und weiterentwickelt. „Jeder DiLab-Raum hat dabei einen speziellen Schwerpunkt, alle Räume haben jedoch eines gemeinsam: Sie sollen das Lehren und Lernen zeitgemäß gestalten, so dass einzelne Lernende bestmöglich lernen“, erklärt Dr. Christian Müller, einer der Verantwortlichen für die DiLabs bei SKILL.de.

Das bedeutet einerseits den Umgang mit digitalen Medien beherrschen, aber auch anders lehren als bisher. „Digital unterstütztes Lehren braucht andere Konzepte als analoger Unterricht. Wir können den klassischen Unterricht nicht eins zu eins umsetzen ins Digitale.“ Diese Umsetzung der digitalen Möglichkeiten in echte didaktische Konzepte sei, so Mädgefrau, der Kern dessen, was in SKILL.de erarbeitet werden soll.

Prof. Dr. Jutta Mägdefrau, Universität Passau

Prof. Dr. Jutta Mägdefrau

Kritischer Umgang mit digitalen Medien

2016 ist das Projekt SKILL an der Universität Passau gestartet, 2019 ging es mit SKILL.de in die Verlängerung. Es ist Teil der zweiten Förderphase der Qualitätsoffensive Lehrerbildung (QLB) und vereint unter dem Dach des Zentrums für Lehrerbildung und Fachdidaktik (ZLF) eine Vielzahl an Beteiligten. Derzeit besteht das Team aus etwa 20 Hochschullehrenden sowie rund 25 wissenschaftlichen Mitarbeitenden aus verschiedenen Fakultäten und Einrichtungen der Universität. Neben nationalen Kooperationen mit Schulen wie Hochschulen bestehen auch internationale Kontakte und Zusammenarbeiten mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Chile, Österreich, Schweden, der Türkei und den USA. Das Passauer Team lädt Interessierte aus dem In- und Ausland ein, Kontakt aufzunehmen und im Projekt mitzumachen.

Gemeinsam mit Lehramtsstudierenden forscht das SKILL.de-Team nicht nur daran, wie digitale Medien sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden können, sondern auch, wie Schülerinnen und Schüler, Studierende lernen, kritisch mit digitalen Medien umzugehen. „Wir sehen immer wieder, welchen extremen Lernbedarf junge Menschen im Umgang damit haben. Technisch wissen sie alles und können erklären, warum diese oder jene App auf dem Handy gerade nicht funktioniert. Aber sie verstehen die Algorithmen nicht, die ihr digitales Leben so elementar beeinflussen. Sie müssen lernen zu reflektieren,“ mahnt Mägdefrau.

Digital unterstütztes Lehren braucht andere Konzepte als analoger Unterricht. Wir können den klassischen Unterricht nicht eins zu eins umsetzen ins Digitale.“

Prof. Dr. Jutta Mägdefrau

DiLab Klassenraum

Bild eines DiLab Klassenzimmers

Kooperatives Arbeiten im Krisenmodus

Wegen der aktuellen Einschränkungen durch die Corona-Pandemie schieben im Moment nur selten Studierende die flexiblen Möbel in den DiLabs für eine Besprechung zusammen, auch die kleinen Arbeitsnischen bleiben leer. Kooperatives Arbeiten an den Schulen vor Ort ist derzeit ebenfalls kaum möglich. „Wir mussten wie so viele andere auf digitale Kanäle ausweichen“, sagt Jutta Mägdefrau. „Die Situation hat dem Thema natürlich einen Schub verpasst, plötzlich mussten sich alle mit digitalen Möglichkeiten der Wissensvermittlung auseinandersetzen. Die Kehrseite aber ist, dass viele Lehrende an den Schulen so sehr damit beschäftigt waren, den Unterricht weiterhin überhaupt gewährleisten zu können, dass Fortbildungen und Weiterbildungen vorerst zurückstehen mussten.“

Also hat das SKILL.de-Team reagiert –und kurzfristig niederschwellige digitale Angebote für Lehrende entwickelt, etwa ein Lehrendencafé zum gegenseitigen Austausch oder verschiedene Selbstlernangebote zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht. Daneben unterstützten zahlreiche Projektmitarbeitende an Schulen und Hochschule als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, um das Wissen rund um didaktische Konzepte, aber auch Werkzeuge in Zeiten der Online-Lehre schnell weiterzugeben. So bald wie möglich aber soll das gemeinsame Arbeiten vor Ort wieder starten.

Individualisierung als neuer Schwerpunkt

Die Krise hat nicht nur die Arbeitsweise, sondern auch die Forschungsinhalte des Projektes beeinflusst. Noch stärker als bisher ist das Thema Individualisierung im Unterricht in den Fokus gerückt. „Die Pandemie hat die soziale Ungleichheit noch deutlicher zutage treten lassen“, sagt Jutta Mägdefrau. Digitale Medien könnten ihrer Überzeugung nachhelfen, diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken und besser auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einzugehen. „Lernprozesse müssen stärker vom einzelnen Kind her, vom Lernenden, gedacht werden“, so Mägdefraus dringender Appell. „Wir sehen in dem Einsatz digitaler Medien im Unterricht ein Mittel, um individualisierten Unterricht zu unterstützen. Deshalb erproben wir zum Beispiel auch Unterrichtsbausteine mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden.“

Dr. Christian Müller, Universität Passau

Dr. Christian Müller

Neue Aufgabe für Lehrende

Für Jutta Mägdefrau ebenso wie für Christian Müller muss sich auch die Rolle der Lehrenden ändern. „Sie werden von Informationsvermittlern zu Kommunikatoren“, so Müller. „Weil Informationen und Wissen überall zur Verfügung stehen, werden Lehrende nicht mehr nur Wissen weitergeben. Ihre Aufgabe wird es vor allem sein, den jungen Menschen dabei zu helfen, zu verstehen und ihnen beizubringen, wie man mit den verfügbaren Informationen kritisch umgeht.“

Und noch etwas soll anders werden im Unterricht: „Wir wollen weg von dem Gedanken, dass Lehrende Einzelkämpfer sind“, fasst die Lehr-Lern-Forscherin zusammen. 

Mehr Kooperation, mehr Kollaboration, mehr fächerübergreifende Projekte. Im DiLab-Lehrerzimmer an der Universität Passau können angehende Lehrende genau das schon mal testen, wenn sie Corona bedingt wieder dürfen: Tische zusammenschieben, gemeinsam an einem Thema arbeiten, sich in Kleingruppen Detailfragen widmen, sich im ‚Cube‘ mit Kolleginnen und Kollegen von extern zusammenschalten oder sich per Virtual Reality probeweise in die Situation eines Lehrers oder einer Lehrerin im Klassenzimmer hineinbegeben.

Damit die neuen Lehrformate mit digitalen Medien, die in SKILL.de erarbeitet werden, in den Klassenzimmern und Seminarräumen der Zukunft auch wirklich umgesetzt werden können und funktionieren, braucht es neben der Kompetenz der Lehrenden noch etwas anderes Wichtiges: eine gute digitale Ausstattung – und, so der Wunsch der Professorin: eine Medientechnikerin oder einen Medientechniker an jeder Schule und jeder Hochschule. Denn: „Die medientechnische Unterstützung für diese didaktischen Innovationen ist eminent wichtig.“

Autorin: Nicola Jacobi

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