Prof. Dr. Karoline Reinhardt, Professorin für Angewandte Ethik an der Universität Passau und Gastgeberin der 11. Tagung für Praktische Philosophie, bei der Begrüßung der Teilnehmenden.
Ein Journalist chattet mit einem Programm, das ihm plötzlich seine Liebe gesteht. Eine Frau verliebt sich in einen Chatbot und verlobt sich mit ihm. Eine Rentnerin unterhält sich regelmäßig mit einem Chatbot über die Bibel.
Dies sind nur einige Beispiele für neue Formen der Beziehung zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz, die in der Vergangenheit Schlagzeilen gemacht haben und die auch die Philosophin Prof. Dr. Eva Weber-Guskar in ihrem Plenarvortrag im Rahmen der Tagung für Praktische Philosophie an der Universität Passau aufgreift. Immer mehr Nutzende sogenannter intelligenter Systemen geben an, Freundschafts- oder gar Liebesbeziehungen zu digitalen Avataren zu führen. Apps wie Replika, die auf Large Language Models (LLMs) basieren, werben sogar damit, dass der Chatbot einen virtuellen Freund oder eine virtuelle Freundin simuliert.
Prof. Dr. Eva Weber-Guskar, Heisenbergprofessorin für Ethik und Philosophie der Emotionen am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum, hielt einen Plenarvortrag auf der Tagung für Praktische Philosophie an der Universität Passau.
Können soziale Chatbots Gefühle haben? Nein, sagt Prof. Dr. Weber-Guskar, die an der Universität Bochum zur Ethik und Philosophie der Emotionen forscht. Man könne ihnen auch kein Denken oder Fühlen unterstellen, denn schließlich handele es sich um die Ausgabe von Worten nach errechneter statistischer Passung, die teilweise inhaltlich reguliert sei. Umgekehrt aber sei es sehr wohl so, dass der Mensch Gefühle entwickle. Wie lässt sich dieses neue Phänomen philosophisch angemessen beschreiben? Die Forscherin stellt in ihrem Vortrag mehrere Ansätze vor, darunter den fiktionalistischen. Demnach tritt der Mensch mit der Maschine in ein Rollenspiel ein, wie man es etwa auch vom Theater oder von Filmvorführungen kennt. Im Unterschied zu Theater und Film interagiert der Mensch jedoch mit der fiktiven Person. Das sei an sich nicht problematisch, könne aber die neuen Beziehungen zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz nur teilweise erfassen.
Problematisch werde es, wenn der Mensch den Chatbot zu seinem ständigen Begleiter mache. Denn dann verschwimmen Realität und Fiktion und es bestehe die Gefahr des Realitätsverlusts. Um dem entgegenzuwirken sei es Prof. Dr. Weber-Guskar zufolge wichtig, eine neue Art von Emotionalität gegenüber dem Chatbot zu entwickeln und ihn als das wahrzunehmen, was er wirklich ist: eine neue Art von realem Gegenüber in einem Gespräch – ohne Geist und Gefühle. Gelungen sei dies aus Sicht der Philosophin am Beispiel der Rentnerin, die regelmäßig mit einer Pfarrer-KI über theologische Fragen chattet.
Das Verhältnis von Mensch und künstlicher Intelligenz war eines von vielen Themen auf der 11. Tagung für Praktische Philosophie, die erstmals an der Universität Passau stattfand. In 200 Vorträgen widmeten sich die Forschenden am 19. und 20. September den drängenden Fragen unserer Zeit, wie sie etwa im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz, Demokratie und Klimawandel auftreten. Gekommen waren mehr als 230 Teilnehmende aus dem gesamten deutschsprachigen Raum.
Impressionen von der Tagung für Praktische Philosophie
Rüstzeug für kritisches Hinterfragen
"Praktische Philosophie schreckt nicht vor den komplexen Problemen unserer Zeit zurück und sucht nach Antworten auf drängende Fragen“, betonte Prof. Dr. Karoline Reinhardt, Inhaberin der Professur für Angewandte Ethik an der Universität Passau, die die Tagung zusammen mit ihrer Kollegin Prof. Dr. Birgit Beck von der TU Berlin organisiert hat. Dass es gelungen war, das Format nach Passau zu holen, freute den Vertreter der Universitätsleitung. „Nachdem die Tagung zehn Jahre lang in Salzburg stattgefunden hat, hat sie nun in Passau eine neue Heimat gefunden“, sagte Prof. Dr. Jan H. Schumann, Vizepräsident für Forschung. Die Stadt sei ein „hervorragender Ort“ für die philosophische Tagung, denn hier werde intensiv und mit Leidenschaft philosophiert, beispielsweise auch mit Bürgerinnen und Bürgern im Biergarten zu Texten von Kant.
Mit ihrem dichten Programm beleuchte die Tagung die gesamte Breite der Praktischen Philosophie und diskutiere wichtige Fragen der KI- und Digitalisierungsethik sowie zur Nachhaltigkeit. „Sie leisten einen wichtigen Beitrag zu den großen Herausforderungen unserer Zeit, die eben nicht nur mithilfe von technologischen Entwicklungen adressiert werden können, sondern bei denen Ihre Disziplin wichtige Impulse liefern kann und muss.“
Prof. Dr. Schumann betonte die Bedeutung der Tagung für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Dieser könne erste Ansätze und Ideen präsentieren und sich in der Diskussion mit erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern viele Anregungen für die weiteren Arbeiten holen.
Nur wenn wir philosophisches Denken und kritische Reflexionskompetenzen immer wieder neu in die aktuellen wissenschaftlichen Diskurse einbringen, sind wir in der Lage, die globalen und lokalen Probleme der Gegenwart zu lösen."
Prof. Dr. Jan-Oliver Decker, Dekan der Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Fakultät
Den freien Austausch auf Augenhöhe in einer offenen und hierarchiefreien Atmosphäre würdigte auch der Dekan der Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Passau, Prof. Dr. Jan-Oliver Decker. Der Medienwissenschaftler unterstrich die Bedeutung des Faches Philosophie als eines der entscheidenden Grundlagen- und Brückenfächer für viele andere Disziplinen sowie vor dem Hintergrund der Herausforderungen der heutigen Zeit: „Nur wenn wir philosophisches Denken und kritische Reflexionskompetenzen immer wieder neu in die aktuellen wissenschaftlichen Diskurse einbringen, sind wir in der Lage, die globalen und lokalen Probleme der Gegenwart zu lösen.“ Wer, wenn nicht die Philosophie, gebe uns dafür das nötige Rüstzeug, fragte er.
Den ersten Plenarvortrag hielt Prof. Dr. Christian Seidel, Professor am Department für Philosophie des Karlsruher Instituts für Technologie.
Der interdisziplinäre Charakter der Veranstaltung sowie die enge Einbindung des wissenschaftlichen Nachwuchses trugen wesentlich zur Vielschichtigkeit und Lebendigkeit der Debatten bei. Zentral für die Tagung waren die beiden Plenarvorträge. Neben Prof. Dr. Weber-Guskars Vortrag zum Thema Chatbot und Emotionen sprach Prof. Dr. Christian Seidel vom Karlsruher Institut für Technologie zum Konzept der „Zukunftsvergessenheit“.
Der Philosoph diskutierte die Frage, welche Einstellung man zur Zukunft anderer Menschen haben sollte und wie ernst man sie nehmen muss. Der Begriff "Zukunftsvergessenheit" werde häufig verwendet, um politische Entscheidungen zu kritisieren, die die Zukunft außer Acht ließen. Gleichzeitig argumentierte Seidel, dass Zukunftsvergessenheit manchmal auch eine rationale oder sogar notwendige Haltung sein kann, insbesondere wenn übermäßige Sorge um die Zukunft anderer das eigene Leben belastet. In einer scharfsinnigen Analyse lotete er aus, in welchen Fällen es moralisch und rational geboten sein könnte, die Zukunft zu vergessen, um das Ideal eines guten Lebens zu wahren.
Über die Tagung für Praktische Philosophie
Die Tagung für Praktische Philosophie zählt zu den bedeutendsten Veranstaltungen auf diesem Gebiet im deutschsprachigen Raum und wurde 2013 in Salzburg ins Leben gerufen. Sie findet jährlich statt und bietet ein Forum für den Austausch zwischen etablierten und jungen Forschenden, auch über die Grenzen der Philosophie hinaus. Seit 2024 wird die Tagung unter der Leitung von Prof. Dr. Karoline Reinhardt von der Universität Passau in Kooperation mit Prof. Dr. Birgit Beck von der Technischen Universität Berlin sowie Dr. Gottfried Schweiger von der Paris-Lodron-Universität Salzburg und Prof. Dr. Michael Zichy von der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn organisiert.
Mehr Informationen
Prof. Dr. Karoline Reinhardt
Welche ethischen Fragen werden durch gesellschaftlichen und technologischen Wandel aufgeworfen?
Welche ethischen Fragen werden durch gesellschaftlichen und technologischen Wandel aufgeworfen?
Prof. Dr. Karoline Reinhardt ist seit dem Wintersemester 2022/23 Juniorprofessorin für Angewandte Ethik an der Universität Passau. Davor war sie unter anderem als PostDoctoral Fellow am Ethics & Philosophy Lab des DFG Exzellenzclusters „Machine Learning: New Perspectives for Science“ an der Universität Tübingen tätig und Visiting Scholar an der Tulane University in New Orleans. Sie ist Mitglied der Jungen Akademie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und war von 2020-2022 Sprecherin des Akademie-Kollegs. Im September 2024 erhielt sie den Kant-Nachwuchspreis der Kant-Gesellschaft und der Fondazione Silvestro Marcucci.