Mitglieder des Projektteams von links: Marie Hirsch, Marian Micke, Lena Scholz und Julia Berner. Mit auf dem Bild ist auch Dr. Fabian Wobser (2. v.l.) von der Professur für Philosophie.
Als ein älterer Herr im Biergarten des Restaurant Oberhauses zum Tisch des Philosophie-Teams von PASSAUtonomy kommt, ist er erst einmal überrascht. "Bin ich hier richtig beim Philosophieren im Biergarten?", fragt er. Die jungen Leute am Tisch nicken, laden ihn ein, sich dazu zu setzen. "Also ich hätte jetzt nicht erwartet, dass ich der Älteste am Tisch bin", sagt er.
Dass Philosophie alle angeht und nicht nur etwas für Ältere oder den Elfenbeinturm ist, hat das studentische Team um Doktorandin Johanna Sinn und Marie Hirsch von der Professur für Angewandte Ethik in diesem Sommersemester bewiesen. Es hat sich zum Ziel gesetzt, im Kant-Jubiläumsjahr zu dessen Philosophie mit verschiedenen Zielgruppen auch außerhalb der universitären Öffentlichkeit ins Gespräch zu kommen. Und schließlich kommen im Biergarten die Leute zusammen, wie es in Bayern so schön heißt.
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Projektleiterin Johanna Sinn freut sich, dass die Biergarten-Termine so gut angenommen wurden. Insbesondere zum Termin Ende Juni im Alten Bräuhaus in der Altstadt seien viel mehr Philosophie-Interessierte gekommen als erwartet: „Wir mussten erst einmal weitere Tische anbauen und haben dann in drei Gruppen diskutiert“, erzählt sie. „Es waren alles uni-externe Personen und das Format hat ihnen gefallen. Das war wirklich ein schönes Erlebnis.“
Moralische Fragen auf dem Bierdeckel
Auch zum Termin im Oberhaus-Biergarten finden sich drei Tische Philosophie-Begeisterter ein. Lehramtsstudent Marian Micke, der diesen Termin leitet, teilt einen „Reader“ mit Kant-Texten aus. Ein bisschen Uni muss sein. Das PASSAUtonomy Team hat sich für jedes Treffen einen Text des Philosophen ausgesucht, der dessen Freiheitsbegriff aus einer bestimmten Perspektive beleuchtet. Die Texte sollen das Sprungbrett für die Gespräche an den Tischen sein.
Beim Termin auf Oberhaus sind es Auszüge aus der Kritik der praktischen Vernunft, einem der wichtigsten Werke der Praktischen Philosophie überhaupt. Kant entwickelt darin seine Theorie der Moralbegründung. Es enthält die Grundformel, wonach man sich so verhalten sollte, dass die Maxime des Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.
Damit die Teilnehmenden schneller in die Thematik finden, hat das Team weiße Bierdeckel mitgebracht. Die Teilnehmenden sollen darauf einen moralischen Satz schreiben, der aus ihrer Sicht unstrittig ist. Der ältere Herr am Tisch schreibt auf seinen: „Sage immer die Wahrheit!(?)“ Mit dem Fragezeichen wolle er zum Ausdruck bringen, dass die Wahrheit nicht immer klar sei, sondern auf subjektiven Einschätzungen beruhe. Aber wenn man für sich selbst Wahrheit und Lüge unterscheiden könne, dann könne man zumindest selbst entscheiden, nicht zu lügen, wirft Lehramtsstudentin Julia Berner vom PASSAUtonomy-Team ein.
Kants Sicht auf die Menschen
Am Nachbartisch diskutiert man, wie sich die Menschen wohl bei einem Ausfall systemkritischer Infrastrukturen verhalten würden. Eine Teilnehmerin befürchtet Mord- und Totschlag. Marian Micke hält mit Kants Philosophie dagegen. Denn Kant habe eine sehr optimistische Sicht auf den Menschen. Kant zu lesen stimme ihn hoffnungsfroh.
Am Tisch sitzt auch Karoline Reinhardt, Professorin für Angewandte Ethik, die das Projekt mit initiiert hat. Sie ist ausgewiesene Kant-Expertin. „Kants 300-jähriger Geburtstag ist ein schöner Moment, um darauf zu reflektieren, wie wir mit unserer Philosophiegeschichte umgehen wollen, was wir davon behalten wollen, was vielleicht aber auch in die Mottenkiste der Geschichte gehört und was immer noch relevant ist.“ Das studentische Engagement im Projekt freut die Professorin dabei ganz besonders.
Das Projekt PASSAUtonomy gehört zu den Gewinnerteams im diesjährigen Hochschulwettbewerb im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Wissenschaftsjahres zum Thema Freiheit. Der Wettbewerb ist ein Projekt von Wissenschaft im Dialog (WiD) und wird durch die Hochschulrektorenkonferenz und den Bundesverband Hochschulkommunikation unterstützt. Neben den Biergarten-Terminen hat das studentische Team des Projekts PASSAUtonomy an der Uni eine Podiumsdiskussion und eine Ausstellung organisiert sowie zusammen mit der Hochschulgruppe GoverNet Workshops an Schulen veranstaltet.
BMBF-Projekt PASSAUtonomy: Freiheit nach Immanuel Kant neu entdecken
Das Passauer Projekt PASSAUtonomy ist einer der Gewinner des Hochschulwettbewerbs im Wissenschaftsjahr 2024, das diesmal dem Thema „Freiheit“ gewidmet ist. Das Projekt entdeckt die alte Idee des Philosophen Immanuel Kant – Frei sind wir, wenn wir uns selbst Gesetze geben können – neu.
Anstehende Veranstaltungen in Passau im Bereich Philosophie
Kennt Passau jetzt Kant? „Ich würde sagen, auf jeden Fall besser als vor unserem Projekt“, sagt Marie Hirsch, die das Projekt gemeinsam mit Johanna Sinn leitet. „Und umgekehrt würde Kant jetzt auch Passau besser kennen, denn wir haben auch wirklich über Themen gesprochen, die Passau bewegen.“ Zum Beispiel über Verkehr und die Frage, wieviel Freiheit und wieviel Einschränkung es braucht.
Der Termin auf Oberhaus war der vorerst letzte im Rahmen des Projekts. Aber bereits im September geht es mit dem Philosophieren weiter: Von 2. bis 6. September findet die Passau Summer School of Applied Ethics statt, die sich insbesondere an internationale Studierende an der Universität Passau richtet. Von 19. bis 20. September wird Passau zum Zentrum einer der größten deutschsprachigen Philosophietagungen: Prof. Dr. Reinhardt hat zusammen mit Prof. Dr. Birgit Beck von der TU Berlin die Tagung für Praktische Philosophie von Salzburg nach Passau geholt. Die Anmeldung für die Teilnahme ist noch möglich.
Prof. Dr. Karoline Reinhardt
Welche ethischen Fragen werden durch gesellschaftlichen und technologischen Wandel aufgeworfen?
Welche ethischen Fragen werden durch gesellschaftlichen und technologischen Wandel aufgeworfen?
Prof. Dr. Karoline Reinhardt ist seit dem Wintersemester 2022/23 Juniorprofessorin für Angewandte Ethik an der Universität Passau. Davor war sie unter anderem als PostDoctoral Fellow am Ethics & Philosophy Lab des DFG Exzellenzclusters „Machine Learning: New Perspectives for Science“ an der Universität Tübingen tätig und Visiting Scholar an der Tulane University in New Orleans. Sie ist Mitglied der Jungen Akademie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und war von 2020-2022 Sprecherin des Akademie-Kollegs.