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Antisemitismus in NRW: Studie zeigt große Verbreitung

Das Land Nordrhein-Westfalen hat die Ergebnisse einer Dunkelfeldstudie vorgestellt, an der auch der Politologe Prof. Dr. Lars Rensmann von der Universität Passau beteiligt war.

Symbolbild: Adobe Stock

NRW-Innenminister Herbert Reul und die Antisemitismusbeauftragte des Landes, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, haben die Ergebnisse der Dunkelfeldstudie „Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft von Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024“ in Düsseldorf vorgestellt. Der Politologe Prof. Dr. Lars Rensmann von der Universität Passau leitete diese gemeinsam mit dem Soziologen Professor Heiko Beyer von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Der Studie zufolge sind antisemitische Einstellungen und Vorurteile in Nordrhein-Westfalen weit verbreitet. Je nach Fragestellung wiesen acht bis 24 Prozent der Befragten gefestigte antisemitische Einstellungen auf. Die Zustimmungswerte variieren stark zwischen den verschiedenen Antisemitismusformen, heißt es in der zusammenfassenden Pressemitteilung der Landesregierung.

Abgefragt wurden die Formen religiöser Antisemitismus, moderner oder „tradierter“ Antisemitismus sowie sekundärer oder „holocaustbezogener“ Antisemitismus, zudem auch israelbezogener Antisemitismus. Bei den Kommunikationsmodi des Antisemitismus wurde erstmals neben direkten oder offenen und camouflierten Modi auch die Kategorie des „tolerierten Antisemitismus“ eingeführt und systematisch untersucht. Der „tolerierte Antisemitismus“ bezieht sich auf die geäußerte Akzeptanz und Toleranz gegenüber Antisemitismus, den Dritte oder Andere äußern.

Die Studie zeigt, dass acht Prozent der Befragten religiös geprägte antisemitische Einstellungen vertreten. Mit 24 Prozent glaubt fast ein Viertel der Befragten modernen antisemitischen Erzählungen, wie beispielsweise an eine sogenannte „jüdische Weltverschwörung“. Einer Relativierung oder sogar Leugnung des Holocaust stimmen 19 Prozent der Befragten zu, während ein israelbezogener Antisemitismus bei immerhin noch 14 Prozent der Befragten auf Zustimmung stößt. Nicht nur bei den Antisemitismusformen, sondern auch bei der Frage, ob der Antisemitismus offen oder camoufliert, also über Umwege oder Codes, formuliert wurde, konnte die Studie deutliche Unterschiede feststellen.

Innovativ an der Dunkelfeldstudie sind neben der umfassenden und neuen Erhebung antisemitischer Einstellungen auch Experimente zu antisemitischem Verhalten in unterschiedlichen Kontexten. "Hierbei zeigt sich unter anderem, wie wichtig Primärgruppen-Normen sind, an die sich Menschen anpassen—und wie wichtig es deshalb ist, anti-antisemitische Normen gesellschaftlich aufrechtzuerhalten und sich einer antisemitischen Normalität entgegenzustellen", erklärte Prof. Dr. Lars Rensmann, Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vergleichende Regierungslehre an der Universität Passau.

Passauer Politologe besorgt über israelbezogenen Antisemitismus bei Teenagern

Prof. Dr. Lars Rensmann bei der Pressekonferenz zur Dunkelfeldstudie zu Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen. Foto: Land NRW / Martin Götz

Prof. Dr. Lars Rensmann von der Universität Passau bei der Pressekonferenz, auf der die Ergebnisse der Dunkelfeldstudie vorgestellt wurden. Foto: Land NRW / Martin Götz

Die Studie wurde in den vergangenen zwei Jahren im Auftrag der Antisemitismusbeauftragen des Landes Nordrhein-Westfalen und des Ministeriums des Innern von Forschenden der Universität Passau und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf durchgeführt. Befragt wurden 1.300 per Quotenverfahren ausgewählte Personen in Nordrhein-Westfalen ab 16 Jahren. Die Studie ist die erste große Umfrage zu antisemitischen Vorurteilen in Nordrhein-Westfalen seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den Auswirkungen auf das Leben der Jüdinnen und Juden in Nordrhein-Westfalen. In der Studie wurde geprüft, inwiefern bestimmte Gruppen besonders hohe Antisemitismuswerte aufweisen.

Antisemitismus hat an Normalität in der Gesellschaft gewonnen und darf nicht weiter zunehmend zur akzeptierten oder tolerierten Norm werden, gerade unter Jugendlichen.

Prof. Dr. Lars Rensmann, Universität Passau

Prof. Dr. Rensmann von der Universität Passau ordnete die Ergebnisse wie folgt ein: „Die Studie bietet die bisher umfassendsten Erkenntnisse zur Verbreitung und zu den Formen und Faktoren des Antisemitismus in der Gesellschaft. Besonders besorgniserregend ist die Akzeptanz von Antisemitismus, und insbesondere des israelbezogenen, bei Teenagern. Fast die Hälfte der Befragten hegt camouflierte antisemitische Ressentiments, insbesondere verschwörungsmythisch und erinnerungsabwehrende. Einige Implikationen unserer Befunde liegen meines Erachtens auf der Hand. Die Bekämpfung des Antisemitismus bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und eng verknüpft mit dem Schutz der freiheitlichen Demokratie. Antisemitismus hat an Normalität in der Gesellschaft gewonnen und darf nicht weiter zunehmend zur akzeptierten oder tolerierten Norm werden, gerade unter Jugendlichen. Vielmehr sollten anti-antisemitische Normen gestärkt werden. Zuvörderst erfordert dies einen neuen gesellschaftlichen Umgang mit dem grassierenden, teils Gewalt glorifizierenden Antisemitismus und der Desinformation auf sozialen Medien wie TikTok, die längst zu einer primären Sozialisationsinstanz geworden sind. Hier bräuchte es aus meiner Sicht einen neuen Gesellschaftsvertrag und entsprechende neue Initiativen der Intervention und Prävention. Zudem sind dringend Bildung und Kompetenzen von Multiplikatoren wie Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeitern und Lehrerinnen und Lehrern durch institutionelle Maßnahmen zu verbessern, gerade zu den Themen Antisemitismus und Israel. Der Einfluss autoritärer Staaten und Verbände auf demokratische Bildung, Institutionen und Öffentlichkeit muss stärker eingeschränkt werden. Die Herausforderung ist groß und erfordert eine neue Art gesellschaftlicher Anstrengung.“

Mit unserem Fragebogen konnten wir verschiedene Formen des Antisemitismus differenzieren und dabei feststellen, dass (je nach Form) 8 bis 24 Prozent der Befragten tief verankerte antisemitische Überzeugungen aufweisen.

Prof. Dr. Heiko Beyer, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der Soziologe Prof. Dr. Heiko Beyer von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf erklärte dazu: „Unsere Studie zeigt, dass antisemitische Einstellungen in Nordrhein-Westfalen eine beunruhigende Normalität erreicht haben. Mit unserem Fragebogen konnten wir verschiedene Formen des Antisemitismus differenzieren und dabei feststellen, dass (je nach Form) 8 bis 24 Prozent der Befragten tief verankerte antisemitische Überzeugungen aufweisen. Besonders bemerkenswert ist, dass der Anteil bei hochgebildeten und politisch linken Befragten sogar wahrscheinlich noch unterschätzt wird, da diese, wie unsere Umfrage-Experimente nahelegen, dazu neigen, ihre Einstellungen nicht offen zuzugeben. Darüber hinaus offenbaren die Ergebnisse eine signifikante diskriminierende Handlungspräferenz: Befragte würden im Durchschnitt häufiger jüdische (und Schwarze) Mitreisende im Zug im Vergleich zu nicht-jüdischen meiden. Diese Erkenntnisse zeichnen ein alarmierendes Bild der Verbreitung antisemitischer Haltungen und ihrer potenziellen Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben.“

Prof. Dr. Lars Rensmann

forscht zu Demokratiekrisen, Rechtspopulismus, Autoritarismus und Autokratisierung im globalen Vergleich

Welche neuen und alten Gefahren ergeben sich für die Demokratie im digitalen Zeitalter?

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Prof. Dr. Lars Rensmann ist seit dem Sommersemester 2022 Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vergleichende Regierungslehre. Davor war er Professor für Europäische Politik und Gesellschaft an der Universität Groningen, Associate Professor für politische Wissenschaft an der John Cabot University in Rom und DAAD Assistant Professor of Political Science an der University of Michigan. In seiner Forschung beschäftigt sich Prof. Dr. Rensmann u.a. global vergleichend mit Demokratiekrisen, Autoritarismus, Antisemitismus, Populismus und Rechtsradikalismus. Aktuell leitet er in Nordrhein-Westfalen eine "Dunkelfeldstudie", um die Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen und Ressentiments in der Gesellschaft zu beleuchten.

„Dunkelfeldstudie“ zu Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen

„Dunkelfeldstudie“ zu Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen

Eine „Dunkelfeldstudie“ unter der Leitung des Politologen Prof. Dr. Lars Rensmann von der Universität Passau und des Soziologen Prof. Dr. Heiko Beyer von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf hat die Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen und Ressentiments in der Gesellschaft beleuchtet.

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