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"Die Angst ist eine andere"

Forschungsschwerpunkt Europa: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Passau ordnen aktuelle Entwicklungen und Hintergründe zum Ukraine-Krieg ein. Teil 5: Osteuropa-Historikerin und Ukrainerin Dr. Natalia Poluhin-Ivanusa über die jüdische Bevölkerung in ihrer Heimat.

Ruine der Festungssynagoge in der westukrainischen Stadt Brody, die in den 1740er Jahren erbaut wurde und im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt wurde. Foto: Adobe Stock

Dr. Natalia Poluhin-Ivanusa

Dr. Natalia Poluhin-Ivanusa

forscht zu jüdischen Kaufleuten im habsburgischen Galizien

Wie haben sich die Ideen der jüdischen Aufklärung im 19. Jahrhundert von Galizien aus verbreitet?

Wie haben sich die Ideen der jüdischen Aufklärung im 19. Jahrhundert von Galizien aus verbreitet?

Dr. Natalia Poluhin-Ivanusa ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen. Die Historikerin, die aus dem westukrainischen Lviv stammt, hat dort an der Ukrainischen Katholischen Universität und im Anschluss an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) studiert. Sie promovierte an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. An der Universität Passau erforscht sie im Rahmen eines Projekts die Mobilität jüdischer Kaufleute im langen 19. Jahrhundert im habsburgischen Galizien und wie sich über deren internationales Netzwerk Ideen der jüdischen Aufklärung verbreiteten. Dr. Poluhin-Ivanusa lebt mit ihrer Familie in Frankfurt (Main).

Das Judentum hat mich bereits während meines Studiums in Lviv fasziniert. Die Religion, die reichhaltige Tradition, die lange Geschichte, die vielfältigen Entdeckungsmöglichkeiten, all das fand ich sehr spannend. In meinem Forschungsprojekt an der Universität Passau untersuche ich eine Zeit, in dem diese Vielfalt eine Blüte feierte. Es geht um jüdische Kaufleute im langen 19. Jahrhundert in der Stadt Brody im habsburgischen Galizien, einem historischen Gebiet in der heutigen Westukraine und in Südpolen. Ich untersuche, wie sich Ideen der jüdischen Aufklärung über deren Mobilität und deren internationales Netzwerk verbreiteten. Ich nähere mich also der ukrainischen Geschichte aus einer anderen Perspektive, und zwar aus ihrer Geschichte als transnationale Kontaktzone.

Wie es der jüdischen Gemeinschaft derzeit Ukraine geht? Nun, genauso wie meiner Familie, wie der ukrainischen Bevölkerung insgesamt: Sie müssen um ihr Leben bangen.

Dr. Natalia Poluhin-Ivanusa, Universität Passau

Derzeit komme ich aber kaum zum Forschen, denn ich engagiere mich stark in der Organisation von Hilfe und Unterstützung für die Ukraine. Meine Eltern leben in Lviv, die Eltern meines Mannes in Kiew. Wir stehen täglich in Kontakt, sie sind wohlauf. Aber die Sorge ist groß.

Wie es der jüdischen Gemeinschaft derzeit Ukraine geht? Nun, genauso wie meiner Familie, wie der ukrainischen Bevölkerung insgesamt: Sie müssen um ihr Leben bangen. Doch Jüdinnen und Juden sind in einer besonders schwierigen Situation. Die Angst, die sie empfinden, ist eine andere. Schließlich ist die Geschichte reich an Beispielen, in denen sie für schlimme Geschehnisse verantwortlich gemacht wurden. Aus diesem Grund haben sie auch große Angst, sich öffentlich zu positionieren, sich klar zu äußern.

2014, während des Euromaidan, war das noch anders. Hier hatte sich eine Minderheit aktiv auf pro-ukrainischer Seite beteiligt. Doch momentan überwiegt die Zurückhaltung aufgrund dieser großen Angst. Dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Jude ist, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Das ist schlicht kein Thema und dient somit auch nicht der Beruhigung der jüdischen Bevölkerung.

Russland führt seit etwa 2007 einen Informationskrieg. Seitdem hat Russlands Präsident Wladimir Putin seine Ideologie der 'Russki Mir', zu deutsch Russische Welt, kontinuierlich ausgeweitet, instrumentalisiert und mobilisiert. Er hat es erfolgreich geschafft, sein Narrativ zu verbreiten, wonach in der Ukraine Faschisten an der Macht seien. Diese Erzählung knüpft an die Angst der Jüdinnen und Juden sowie nationaler Minderheiten wie der russischen an, beschwört Erinnerungen an die blutigen Massaker der Ukrainischen Aufständischen Armee an der polnischen Zivilbevölkerung in den 1940er Jahren herauf, und damit die Sorge, dass es der jüdischen Gemeinde und anderer Minderheiten genauso ergehen könnte. Dass Stepan Bandera, politischer Aktivist und Anführer der ukrainischen Nationalbewegung in den 1930er und 1940er Jahren, in der Westukraine heute als Volksheld verehrt wird, spielt der russischen Erzählung in die Hände. Bandera hatte in seinem Kampf gegen die sowjetische Regierung einen möglichen Verbündeten im nazistischen Deutschland gesehen.

Doch das russische Narrativ ist sehr weit von der Wirklichkeit entfernt. Ja, es gibt auch heute noch Antisemitismus in der ukrainischen Sprache und Kultur, etwa in Form von antisemitischen Scherzen. Aber die jüdische Gemeinde lebt sicher in der Ukraine. Mir ist in Lviv kein Vorfall bekannt, in dem es zu physischen Attacken gekommen wäre.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Judenfeindlichkeit im Russischen Zarenreich sehr viel ausgeprägter war. Es kam zu grausamen Pogromen, die eine große Auswanderungsbewegung zur Folge hatten. Innerhalb des österreichisch-ungarischen Judentums hingegen verbreiteten sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Ideen der Haskala, Säkularisierung und Integration in die lokale Gesellschaft. Dank diesem Umstand spielte Antisemitismus hier eine geringe Rolle, so dass es eben überhaupt zu der Blütezeit der jüdischen Kaufleute kommen konnte, die ich unter anderem erforsche.

Aktuell haben sich die Menschen in der Ukraine mit ihrer entschlossenen Gegenwehr dem russischen Narrativ in den Weg gestellt. Denn Russland hatte den weiteren Verlauf der Geschichte schon geschrieben: Am zweiten Tag des Krieges erschienen kurzzeitig Artikel in der russischen Presse, wonach die Ukraine kapituliert habe.  

Damit die Gegenwehr Stand hält, braucht die Ukraine jetzt mehr als zuvor die Unterstützung der Weltgemeinschaft. Es muss sich eine Koalition zusammenfinden, die den Druck auf Russlands Präsident Wladimir Putin weiter erhöht, um die Invasion zu stoppen.“

Welche Fragen haben Sie zum Angriff auf die Ukraine? Schreiben Sie uns: frag-die-wissenschaft@uni-passau.de - wir leiten Ihre Fragen weiter und veröffentlichen an dieser Stelle zeitnah Antworten von Forschenden.

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