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Demokratie versus Autokratie: der Kampf unserer Zeit?

Die Erwartung der 1990er Jahre, wonach die Demokratie die Staatsform der Zukunft sei, hat sich als obsolet erwiesen. Im Forschungsmagazin analysiert die Politologin Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig mögliche Gründe.

Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig hat seit 1999 die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau inne. Eines ihrer Lebensthemen ist die Erforschung des politischen Denkens, das zu den totalitären Diktaturen im 20. Jahrhundert geführt hat. Sie hat sich intensiv mit Hitlers „Mein Kampf“ auseinandergesetzt, unter anderem in ihrer Habilitation.

Professorin Barbara Zehnpfennig

Derzeit erforscht sie im Rahmen eines BMBF-Projekts die Ideenwelten von politisch Verfolgten und Verfolgern in der DDR. Weitere Schwerpunkte ihrer Arbeit sind antike Philosophie und die Entstehung der Grundlagen, auf denen unsere Demokratien fußen. Seit 2017 ist sie Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Aus demokratie-theoretischer Perspektiver kommentiert sie immer wieder umstrittene Themen im öffentlichen, politischen Diskurs und scheut hier auch nicht den Konflikt, die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Seiten. 2021 hat sie für dieses Engagement das Bundesverdienstkreuz erhalten. Am 1. Juli 2022 hält Prof. Dr. Zehnpfennig ihre Abschiedsvorlesung. Als sie ihre Professur vor 23 Jahren antrat, herrschte noch die Hoffnung, dass sich die Demokratie nach dem Zusammenbruch der UdSSR als dominierendes Ordnungssystem durchsetzen würde. Ihr Abschied fällt in eine Zeit, in der in Europa ein Autokrat Krieg führt und das westliche Demokratie-Modell weltweit auf dem Rückzug ist. Für das Forschungsmagazin analysiert die Politologin mögliche Gründe.

Die optimistische Erwartung der 90iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, dass die Demokratie die Staatsform der Zukunft sei und sich unaufhaltsam weltweit ausbreiten würde, hegt heute wohl niemand mehr; der Trend ist eindeutig gegenläufig. Laut aktuellem Bertelsmann-Transformationsindex sind erstmals seit 2004 global mehr Autokratien als Demokratien zu verzeichnen, das Verhältnis beträgt 70 zu 67 bei steigender Tendenz zugunsten der Autokratien. Die Übergänge scheinen fließend zu sein. Selbst innerhalb bestehender und als solcher anerkannter Demokratien kann es bedenkliche Entwicklungen geben, etwa was Rechtsstaatlichkeit oder Medienvielfalt angeht – man denke nur an Staaten wie Ungarn oder Polen. Der Glaube, das ‚Freiheitsvirus‘ sei so ansteckend, dass sich ihm niemand widersetzen könne, der einmal mit ihm in Berührung gekommen ist, hat sich als obsolet erwiesen. Freiheit, jener zentrale Wert der Demokratie neben der Gleichheit, kann auch abschrecken. Ein gutes Beispiel dafür ist Russland.

Der Moskauer Kreml, seit dem 13. Jahrhundert das politische und religiöse Zentrum Russlands.

Ein freies Land war Russland nie, denn die Zarenherrschaft, die dem Sowjetregime vorausging, beruhte auf Leibeigenschaft bei einem großen Teil der bäuerlichen Bevölkerung und der Unterstützung des zaristischen Regiments durch einen von ihm abhängigen Dienstadel. Die Zaren regierten autokratisch, das heißt aus eigener Macht, unangefochten und unkontrolliert. Zwang und Gewalt waren gängige Herrschaftsmittel. Zaghafte Reformversuche im 20. Jahrhundert wurden von der Machtergreifung der Bolschewiki zunichte gemacht. Es folgte das Terrorregiment Lenins und Stalins, dem viele Millionen Menschen zum Opfer fielen. Nach der Entstalinisierung in den fünfziger Jahren verringerte sich die Repression zwar, aber die Sowjetunion war weit davon entfernt, ein freies Land zu sein. Dafür sorgte die unumschränkte Herrschaft der KPDSU.

Als das kommunistische Regime kollabierte, schien auf einmal alles möglich – der zentralistische Staat war in sich zusammengebrochen und konnte das Leben nicht mehr durchreglementieren. Was die Menschen in diesen wilden neunziger Jahren erlebten, war aber eine entfesselte Kriminalität und allgegenwärtige Gewalt, die nun nicht mehr vom Staat ausging, sondern von mafiosen Banden. Freiheit wurde Synonym für das Recht des Stärkeren, anstelle einer liberalen Marktwirtschaft begegneten die Menschen einem Raubtierkapitalismus. Der totalitäre Staat war einem schwachen Staat gewichen, der die Kriminellen nicht bändigte, sondern sie gewähren ließ oder sich gar an der Beute beteiligte. Diese Erfahrungen waren ungemein prägend. Die erste wirkliche Begegnung mit der Freiheit zeigte diese in der Gestalt von Willkür, Regellosigkeit und brutaler Selbstdurchsetzung. Das war nur für die Profiteure attraktiv, nicht jedoch für ihre Opfer, also die Mehrheit der Bevölkerung.

Wenn Freiheit Chaos und Unsicherheit bedeutet, entsteht die Sehnsucht nach Ordnung und Sicherheit – und seien sie durch zunehmende Einengung des Bewegungsspielraums und die Unterdrückung Andersdenkender erkauft.

Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig

Von daher ist es nicht verwunderlich, dass in einem solch gebeutelten Land ein Autokrat wie Wladimir Putin reüssieren und allmählich alle Macht in seiner Person konzentrieren konnte. Wenn Freiheit Chaos und Unsicherheit bedeutet, entsteht die Sehnsucht nach Ordnung und Sicherheit – und seien sie durch zunehmende Einengung des Bewegungsspielraums und die Unterdrückung Andersdenkender erkauft. Die positiven Seiten der Freiheit, Selbstbestimmung und der offene Horizont der eigenen Lebenswahl, hatten zu wenige Menschen kenngelernt. Zudem sind diese positiven Seiten immer mit Selbstverantwortung verbunden. Ein Geschenk ist die Freiheit nicht, sondern eine Aufgabe. Viele aber scheuen diese Verantwortung, noch dazu, wenn sie für sie ungewohnt ist. Ihnen ist es dann lieber, wenn jemand anderer für sie entscheidet. Das kann zu einer Duldsamkeit auch im Erleiden von Unrecht führen, die für Menschen schwer nachvollziehbar ist, welche in einem freiheitlichen Umfeld sozialisiert wurden. Es ist aber eine der Erklärungen dafür, weshalb sich die Demokratie weltweit nicht einfach immer weiter ausbreitet.

Denn die Demokratie, die im antiken Griechenland erfunden wurde und eines langen historischen Vorlaufs bedurfte, bis sie sich in den USA und den europäischen Staaten endgültig etablieren konnte, fußt auf vielen Voraussetzungen, die nicht überall gegeben sind. Zentral ist das universalistische Menschenbild: In ihrer Vernunftanlage bzw. ihrer Gottesebenbildlichkeit (was im Grunde dasselbe besagen will) haben alle Menschen eine tiefgehende Gemeinsamkeit; sie sind darin gleich. Daraus folgt, dass alle Unterschiede zwischen ihnen, etwa in Bezug auf Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, religiöse und sexuelle Orientierung, zweitrangig sind. Das gemeinsam Menschheitliche begründet den unendlichen Wert jedes Einzelnen; im Menschen manifestiert sich die Menschheit. Als Vernunftwesen verfügt jeder Mensch über die Freiheit, sich zwischen Optionen zu entscheiden. Diese Freiheit ist zugleich mit der Verantwortung verbunden, für die Folgen seines Tuns einzustehen.

Nationaler Volkskongress in Peking, China.

Nur auf Grundlage eines solch individualistischen Menschenbilds konnten sich die Menschenrechte entwickeln, die eben Individual- und keine Kollektivrechte sind. Kollektivistisch ausgerichtete Staaten wie beispielsweise China halten Menschenrechte deshalb auch für eine spezifisch westliche Erfindung, die für das eigene Land nicht geltend gemacht werden kann. Und auch in großen Teilen der islamischen Welt, die den Menschen primär als Teil der umma, der religiösen Gemeinschaft, betrachten und Souveränität allein bei Gott und nicht etwa beim Staat verorten, erscheint das Modell der westlichen Demokratie geradezu systemwidrig. Die Herrschaft des Rechts, das Prinzip der Repräsentation des Volkes durch die Institution des Parlaments, der Gedanke, dass Macht sich nicht konzentrieren darf, sondern auf verschiedene staatliche Instanzen aufgeteilt werden muss – all diese Bestandteile der demokratischen Ordnung haben ihren Ursprung in besagtem Menschenbild und bedurften jahrhundertelanger geschichtlicher Erfahrung und Entwicklung, um ihre heutige Gestalt annehmen zu können.

Wenn diese historischen und kulturellen Prägungen fehlen, hilft ein Demokratie-Export kaum weiter – siehe Afghanistan, das nach kurzem halb-demokratischen Intermezzo wieder in die Herrschaft der Taliban zurückfiel. Andere Länder wie China geben sich zwar demokratisch, sind faktisch aber grausame Diktaturen oder sogar totalitäre Staaten – wenn sie auch noch die Gedanken der Menschen kontrollieren wollen. Aufgrund des positiven Images der Demokratie werden in den meisten Ländern der Erde Wahlen abgehalten, um die Regierung festzulegen. Doch frei sind diese Wahlen oft nicht, sie sind vielmehr manipuliert und dienen der Legitimation von Gewaltherrschern, die durch korrupte Cliquen an der Macht gehalten werden. 

Allerdings, das beweist die historische Erfahrung, hat kein Unrechtsstaat auf Dauer Bestand, weil das Zerstörerische des Unrechts irgendwann auf es selbst zurückwirkt.

Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig

Man kann also feststellen, dass die Demokratie zwar nach wie vor weltweit Achtung genießt, wenn selbst Diktaturen demokratische Verfahren simulieren, um über ihren wahren Charakter hinwegzutäuschen. Die gelebte Demokratie ist jedoch historisch und kulturell voraussetzungsreich und hat dort wenig Chancen auf Verwirklichung, wo diese Voraussetzungen fehlen. Und selbst, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, muss immer wieder um den Erhalt der demokratischen Ordnung gekämpft werden, weil diese anders als autokratische Herrschaften auf Aushandlungsprozesse, Kompromisse und die Achtung des Rechts angewiesen ist. Autokratien lassen sich insofern leichter errichten, als sie sich auf die Macht- und Geldgier derjenigen verlassen können, die den Gewaltherrscher stützen und dafür die entsprechende Belohnung erwarten dürfen. Sind sie einmal etabliert, garantiert die Angst der Unterdrückten den Fortbestand. Allerdings, das beweist die historische Erfahrung, hat kein Unrechtsstaat auf Dauer Bestand, weil das Zerstörerische des Unrechts irgendwann auf es selbst zurückwirkt. Von daher besteht kein Grund, die weltweit konstatierbare Abnahme an Rechtlichkeit als unumkehrbaren Prozess zu betrachten. An einen Automatismus des Demokratisierungsprozesses zu glauben, ist jedoch ebenfalls unrealistisch. So bleibt nur, demokratische Bestrebungen zu unterstützen, wo sie sich zeigen, und darauf zu hoffen, dass sie allmählich die Traditionen überlagern, die ihnen entgegenstehen.

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