Dr. Bodie Ashton ist ein Identitätshistoriker, der an der Juristischen Fakultät der Universität Passau zu Regierungstheorie und Staatenbildung lehrt und forscht. In seiner Arbeit beschäftigt er sich damit, wie sich Identitäten im Laufe der Geschichte entwickeln, sowohl bei einzelnen Personen als auch bei Gemeinschaften. Dr. Ashton stammt aus Südaustralien und promovierte 2014 an der Universität Adelaide. 2016 kam er an die Universität Passau als Teil des Teams von „ReConFort – Reconsidering Constitutional Formation“ am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte. In dem ERC-Projekt erforschten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrike Müßig historische Verfassungsdebatten in Europa. Dr. Ashton mag alte wie neue Medien: Er ist Verfasser von The Kingdom of Württemberg and the Making of Germany, 1815-1871 (London: Bloomsbury, 2017). Darüber hinaus ist er sehr aktiv auf Twitter. Einer seiner Tweets zur Buschfeuer-Krise in Australien ging zu Beginn des Jahres viral.
Der alten Erzählung nach soll Nero gefidelt haben als Rom brannte. Das ist natürlich nicht wahr. Aber dieses Bild wirkt im Dezember 2019 fast schon wie eine Prophezeiung, als Bilder von Australiens Premier Scott Morrison an einem Pool in einem Ferienresort in Hawaii auftauchten, während in seiner Heimat Städte im Rauch der Buschfeuer erstickten. Morrison ist zwar zurückgekehrt, aber das Desaster hat sich gesteigert. Die Feuer umzingeln ein Gebiet, das ungefähr so groß ist wie Belgien und Österreich zusammen.
Während ich diesen Text schreibe, sind mindestens 28 Menschen in Südaustralien, New South Wales und in Victoria ums Leben gekommen. Australiens einzigartige Wildnis hat unvorstellbaren Schaden genommen. Zurückhaltende Schätzungen beziffern die Anzahl der toten Säugetiere, Vögel und Reptilien auf mehr als eine Billion.
Das Ausmaß der Katastrophe ist, plump gesprochen, irre. Für Nicht-Australierinnen und -Australier ist es schwierig zu fassen. Deshalb habe ich Anfang des Jahres ein kurzes (und, um ehrlich zu sein, wütendes) Erklärstück in Form eines Twitter-Threads veröffentlicht, um meiner dortigen Followerschaft die Katastrophe in meiner Heimat nahe zu bringen. Dieser Thread ging viral, er wurde von Amerikanischen Kongressvertreterinnen, Britischen Autoren, Amerikanischen Schauspielern und anderen gesellschaftlichen Größen wahrgenommen. Bis heute hat er mehr als 20 Millionen User erreicht, mehr als 126000 Menschen haben ihn geteilt. Er wurde auf Französisch übersetzt, war Anlass eines Kommentars und eines Radio-Interviews.
Besorgniserregender Mangel an Deutungshoheit
Bleibt nur die Frage: Warum? Was hat ein Identitäts-Historiker, zugegeben, ein Australier zwar, aber einer, der im bayerischen Passau lebt, zur Diskussion über Klima, Wetter und die Buschfeuer im fernen Australien beizutragen? Viel, wie sich herausstellt, und das wiederum sagt viel aus über einen besorgniserregenden Mangel an Deutungshoheit, und dass sich die tatsächliche Macht der Kommunikation messen lässt anhand der katastrophalen Reaktion, die ihr Fehlen erzeugt.
Für eine Regierung inmitten einer Krise ist Kommunikation der Schlüssel zum Überleben. Das Herzstück jeder westlichen Staatsphilosophie, von Bodin über Hobbes, Locke und darüber hinaus, ist es, dass die wesentliche Verantwortung des Staates darin liegt, für den Schutz und die Sicherheit des Volks zu sorgen; in einer Notlage, wenn diese Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann, ist es entscheidend, dass der Staat sein Engagement kommuniziert. Anders gesagt: eine Führung, die zeigt, dass sie etwas tut, auch wenn dieses Etwas nicht sonderlich erfolgreich ist, erfährt von der Öffentlichkeit Zuspruch und sorgt in dem Prozess für Sicherheit. Dazu braucht die Regierung eine einigende Botschaft: Bleiben Sie ruhig, wir sind da um zu helfen, wir tun alles, was in unserer Macht steht, und Ihre Sicherheit ist unsere Priorität.
Das Fehlen dieser kommunikativen Führungsrolle war auffällig. Morrisons zeitlich völlig unpassender Urlaub, seine mehr als ungeschickte Handhabung der Treffen mit Buschfeuer-Überlebenden, Regierungsmitglieder, die sich über Brandopfer lustig machen („sehr wahrscheinlich Wähler der Grünen“), eine Regierung, die andereThemen als die Brände priorisiert, die vielen Versuche, die Klimawissenschaften zu beschneiden, die lautstarke Rhetorik von vielen Regierungsmitgliedern gegen Pläne, Emissionen zu reduzieren – die Sprache aus dem Büro des Premier und des Kabinetts verstört und spaltet.
Maxime des Thukydides oder Akt der Verzweiflung
Aus der engen Verzahnung der Regierung mit der machtvollen Kohleindustrie, dem annähernden Monopol rechtsgerichteter Presse, der irren Argumentation, wonach Sicherheitsmaßnahmen hinter ökonomischen Überlegungen zurückstehen müssen, würde eine Zynikerin oder ein Zyniker schließen, dass dies ein Beispiel für die Maxime des Thukydides sein muss: „Die Starken tun, was sie wollen, und die Schwachen ertragen, was sie müssen.“ Mit etwas mehr Wohlwollen stellt sich die Tatenlosigkeit der Regierung und die widersinnige Öffentlichkeitsarbeit nicht als Beispiel von absichtlicher Willkür, sondern als Akt der Verzweiflung dar: einer völlig überforderten Regierung, die unfähig ist, einen klaren Weg zu einer Lösung zu finden und von einer Krise in die nächste stolpert.
Niemand erwartet, dass Scott Morrison den Wasserschlauch hält. Genausowenig wie die Menschen glauben, dass er in den Busch gegangen ist und Feuer gelegt hat. Aber seine Regierung hat sich immer wieder der Verantwortung entzogen, sich der bestehenden Situation anzunehmen. Das dient keinesfalls der Sicherheit der Australierinnen und Australier, ganz zu schweigen davon, dass es nicht einmal den Anschein erweckt, dass es das tun würde.
Diskussion über Fragen von existentieller Bedeutung
Es spielen hier zwei Punkte eine Rolle, beide hängen zusammen: die sofortige Antwort auf die Krise und die langfristige Strategie, um eine solche künftig zu verhindern. In Bezug auf Letzteres verheißt die jüngste Einlassung des Premiers nichts Gutes, wonach die Saison der Buschbrände nun „die neue Normalität“ sei und Australierinnen und Australier lernen müssten, damit umzugehen. Sie lässt Schlimmes erahnen, weil diese Aussage darauf hindeutet, dass von dieser Regierung mehr vom Gleichen kommen wird: und zwar die fehlende Bereitschaft, sich an einer Diskussion zu beteiligen, in der es inzwischen um existentielle Fragen geht.
Die Lehren aus Bodin, Hobbes und Locke
Befürworter von Morrison könnten sich jetzt – so sie denn dazu neigten, auf den Französischen Theoretiker Jean Bodin berufen, der in seiner Schrift Les Six Livres de la République (1576) argumentiert, dass der Staat nicht für das „Glück“ der Gesellschaft verantwortlich ist, hauptsächlich weil es einige Dinge gibt, die außerhalb seiner Kontrolle liegen – dazu zählt Bodin, ganz explizit, das Wetter. Doch in der aktuellen Situation geht es nicht um Fragen des „Strebens nach Glück“, sondern in einem sehr wortwörtlichen Sinne um Leben und Freiheit. Es sind dies die Elemente, die zentral für das Wesen des Staates sind.
Thomas Hobbes und John Locke, zweifellos die einflussreichsten Englischen Staatstheoretiker, unterschieden sich in vielen Dingen, einig waren sie sich aber in der grundlegenden Annahme der Aufgabe einer Regierung. In Hobbes’ berühmter Erzählung existiert der Staat, um den Menschen vom Naturzustand zu erlösen, in dem das menschliche Leben „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ sei. Locke definierte etwas prägnanter die Existenz einer Regierung auf der Basis eines Gesellschaftsvertrags, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre natürlichen Rechte an den Staat abgeben. Aber er stellte auch klar, dass diese Macht nur zu Zwecken „des Friedens, der Sicherheit und der öffentlichen Wohlfahrt des Volkes“ gebraucht werden dürfe.
Warum Scott Morrison aufatmen kann
Wir sollten uns bewußt machen, dass die Theorie nur bis zu einem gewissen Punkt gehen kann. Australien ist keine absolutistische Monarchie im Hobbes’schen Sinne. Es leidet nicht unter den Religionskriegen, die in Frankreich wüteten, als Bodin seine Six Livres verfasste. Es hat keine Revolution gegeben (weder glorreich noch in anderer Form), wie dies in England der Fall war, als Locke seinen Second Treatise verfasste. Aber manche Ideen sind zeitlos und universal. Die Australierinnen und Australier erwarten von ihrer Regierung, dass sie Sicherheit, Wohlstand, Frieden gewährleistet, genau wie Locke dies 1689 forderte. Diese Erwartungen werden schlicht nicht erfüllt.
Die Regierung in Canberra täte gut daran, sich an Lockes Schlussfolgerung aus dem Gesellschaftsvertrag zu erinnern: Demnach ist es legitim, gegen einen Staat aufzubegehren, der seine Seite der Abmachung nicht mehr einhält, da dieser Staat dann seinen Zweck nicht mehr erfüllt.
Niemand glaubt ernsthaft oder befürwortet, dass es in Australien zu einer Revolution kommen soll. Scott Morrison zumindest kann aufatmen, denn die moderne liberale Demokratie, die er regiert, ist weniger anfällig für derlei Bedrohungen, als dies John Lockes vom Bürgerkrieg erschüttertes England war.
Und doch bleibt aus den Texten der Vertragstheoretiker eine herausragende Erkenntnis, die nach wie vor gilt: nämlich, dass Regierungen Pflichten haben – sowohl in der Theorie, als auch in der Praxis.
Übersetzung: Kathrin Haimerl
Video zum ERC-Projekt ReConFort (auf Englisch)
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