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Licht in den Informationskrieg um Mariupol

Dr. Olena Melnykova-Kurhanova, Stipendiatin am PICAIS-Zentrum der Universität Passau, untersucht, ob es in ihrer ukrainischen Heimatstadt während der dreimonatigen Belagerung Zugang zu Informationen abseits russischer Propaganda gab.

Wenn Dr. Olena Melnykova-Kurhanova aus ihrem Bürofenster blickt, dann schaut sie über die Passauer Fußgängerzone in Richtung Altstadt. Und, noch wichtiger, sie sieht einen freien Himmel, manchmal auch Flugzeuge. „Diese sind inzwischen für mich zu einem Symbol des Friedens geworden“, sagt sie. Ein Luftraum ohne Bombenhagel.

Dr. Melnykova-Kurhanova ist in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer geboren, dort zur Schule gegangen, hat dort studiert, an der dortigen Universität als Forscherin gearbeitet, hat dort ihren Mann kennengelernt, geheiratet. Sie blieb, auch als 2014 die Kämpfe begannen und die Stadt kurzzeitig von prorussischen Separatisten besetzt war. Doch im März 2022 brach die Hölle über sie herein und sie verstand: Es geht ums Überleben. Am 21. Tag der russischen Belagerung gelang ihr die Flucht.

Wenige Monate später, im Oktober 2022, kam sie nach Passau. Das Büro liegt 2300 Kilometer entfernt von Mariupol, und doch ist die Stadt auch hier präsent. Denn Dr. Melnykova-Kurhanova hat sich vorgenommen, die Zeit der Belagerung aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive aufzuarbeiten. Mit dem Thema „Public Communication in a City under Attack: Russia’s Informational Influence on the Citizens of Mariupol” hat sie sich erfolgreich um ein Stipendium des Passau International Centre for Advanced Interdisciplinary Studies (PICAIS) beworben, das die Einrichtung speziell für promovierte ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgelegt hat.

Gastgebender Professor ist Florian Töpfl, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Kommunikation mit Schwerpunkt auf Osteuropa und die postsowjetische Region. Unter seiner Leitung untersucht die Wissenschaftlerin, welche Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation es in einer Stadt im Belagerungszustand abseits der russischen Propaganda gibt, welche Kanäle die Menschen nutzen, und ob digitale Technologien helfen können, Informationen in solch repressiven Umgebungen zu verbreiten.

Informationsangebot im belagerten Mariupol

In Vorträgen gibt Dr. Olena Melnykova-Kurhanova Einblicke in die Zerstörung ihrer Heimatstadt Mariupol. Hier zeigt sie Prof. Dr. Töpfl eine ihrer Präsentationen. Foto: Universität Passau/Studio Weichselbaumer

In Vorträgen gibt Dr. Olena Melnykova-Kurhanova Einblicke in die Zerstörung ihrer Heimatstadt Mariupol. Hier zeigt sie Prof. Dr. Töpfl eine ihrer Präsentationen. Fotos: Universität Passau

Zurück nach Mariupol, im März 2022. Russische Truppen belagerten die Stadt, schnitten die Bevölkerung von der Außenwelt ab. Es fehlte an allem. Lebensmittel, Wasser, Gas, Medikamente, Kleidung, Strom. „Der Internetzugang war stark eingeschränkt, auch unsere Mobiltelefone konnten wir nicht aufladen“, schildert Dr. Melnykova-Kurhanova.

Im März hätten die Menschen noch Zugriff auf Informationen über Radio, per Kurznachrichtendienst, zum Teil auch über Flugblätter gehabt, die die ukrainische Polizei verteilte. Doch im April schnitten die russischen Angreifer die Bevölkerung systematisch ab, störten die Übertragung ukrainischer Radiosender, tauschten SIM-Karten durch russische aus. Die Blockade der Außenwelt wurde total, russische Propaganda wurde verbreitet, zunächst in Form von Zeitungen, später im Mai beschallten Lastwägen mittels großer Bildschirme die Stadt mit russischem Staatsfernsehen. Am 20. Mai verließen die letzten verbliebenen ukrainischen Kämpfer das Asowstal-Stahlwerk; es übernahmen die russischen Besatzer.

Bilder der Verwüstung: Die Studierenden von Dr. Melnykova-Kurhanova haben die Zerstörung ihrer Fakultät an der Staatlichen Universität in Mariupol dokumentiert. Dr. Melnykova-Kurhanova selbst hat ihren Alltag in der belagerten Stadt fotografiert. Aus dem Fenster ihrer Wohnung sind Menschen zu sehen, die mangels Strom versuchen, draußen Essen zu kochen. Auf einer Straße nahe ihres Wohnorts bilden sich lange Staus von Menschen, die versuchen, mit dem Auto aus der Stadt zu fliehen.

Den Übergang von dem Informationsangebot aus der Vorkriegszeit hin zu der Kreml-kontrollierten Umgebung will Dr. Melnykova-Kurhanova analysieren, um zu strukturieren, welche Zugänge es in diesem Vakuum gab. „Dazu zählt auch, was wir mit unseren eigenen Sinnen wahrnehmen können. Beispielsweise wussten wir in Mariupol, dass die Flieger mit den Bomben von der Meeresseite her kamen. Es konnten also nur russische Angreifer sein.“ Darüber hinaus hätten sich die Menschen in Mariupol etwa über Zeichen an Häuserwänden verständigt.

Herausfordernde Forschung in repressiven Kontexten

Über diese und anderen Formen der Kommunikation will sie per Videoschalte mit Personen sprechen, die während der Belagerung vor Ort in Mariupol waren. Allerdings ist die Durchführung von qualitativen Interviews in solch repressiven Kontexten eine ethische Herausforderung. Unter der Leitung von Prof. Dr. Töpfl, der über viel Erfahrung in der Umsetzung solcher Forschung in postsowjetischen autoritären Regimen verfügt, hat sie einen Leitfaden für die Gespräche entwickelt. Darin ist etwa geregelt, wie die Befragten ausgewählt und kontaktiert werden, wie die Interviews geführt und dokumentiert werden. „In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass die Forscherin über vertrauenswürdige soziale Kontakte vor Ort verfügt“, sagt Prof. Dr. Töpfl.

„Abgesehen davon, dass ich mir mit meiner Forschung zum Ziel gesetzt habe, Wege zu finden, wie sich solche Informationsblockaden verhindern lassen, ist das Projekt auch für mich persönlich wichtig“

Dr. Olena Melnykova, PICAIS-Stipendiatin aus Mariupol

Das ist bei Dr. Melnykova-Kurhanova der Fall, die ihr ganzes bisheriges Leben in Mariupol verbracht hat. „Ich kenne dort jede Ecke und die Menschen.“ Die Augenzeugenberichte sind aber nur ein Teil ihrer Arbeit. Darüber hinaus trägt sie Material und Belege für Mediennutzung während der Zeit der dreimonatigen Belagerung zusammen. Sie untersucht etwa die Auswirkungen auf die lokalen Medien. Zudem sichtet sie Informationen, die auf sozialen Netzwerken verbreitet wurden. Auch hier hilft ihr die Ortskenntnis, um etwa Videos auf deren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Journalismus unter Kriegsbedingungen

Den ersten Teil ihres Projekts will Dr. Melnykova-Kurhanova bis März diesen Jahres abgeschlossen haben. Den zweiten Teil, für das sie ein weiteres halbes Jahr an der Universität Passau verbringen wird, widmet sie den Arbeitsbedingungen von Journalistinnen und Reportern vor Ort in Mariupol und der Frage, wie sich deren Situation im Laufe des Kriegs verändert hat.

„Abgesehen davon, dass ich mir mit meiner Forschung zum Ziel gesetzt habe, Wege zu finden, wie sich solche Informationsblockaden verhindern lassen, ist das Projekt auch für mich persönlich wichtig“, sagt sie. Allein die Beschäftigung mit dem Thema helfe ihr, mit den eigenen traumatischen Erfahrungen umzugehen. "Ich bin Professor Töpfl und seinem Lehrstuhlteam sehr dankbar für die enorme Unterstützung", sagt sie. Nach Passau kam sie dank anderer befreundeter Forscherinnen und Forscher. Eine davon, die Nachwuchsforscherin Dr. Marina Dodlova am Lehrstuhl für Development Economics, habe sie denn auch auf das spezielle Research-in-Residence-Programm des PICAIS aufmerksam gemacht.

Text: Kathrin Haimerl


Am 21. Februar wird Dr. Olena Melnykova-Kurhanova im Rahmen einer englischsprachigen PICAIS-Veranstaltung Einblicke in ihre bisherigen Erkenntnisse geben. Die Veranstaltung findet von 11 bis 12 Uhr im HK 28 SR010 statt. Anlass ist der Jahrestag des Beginn des vollumfänglichen Kriegs Russlands gegen die Ukraine. Bitte melden Sie sich über Stud.IP Nr. 21022023 an oder schreiben Sie eine E-Mail an katrin.arkona@uni-passau.de

Prof. Dr. Florian Töpfl

Prof. Dr. Florian Töpfl

forscht zu digitaler Kommunikation in Russland

Wie beeinflusst Moskau mit Hilfe internetbasierter Technologien Medienpublika im Ausland? 

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Prof. Dr. Florian Töpfl ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Kommunikation mit Schwerpunkt auf Osteuropa und die postsowjetische Region an der Universität Passau. Er leitet das ERC-Consolidator-Projekt The Consequences of the Internet for Russia’s Informational Influence Abroad (RUSINFORM) an der Universität Passau. Bevor Prof. Dr. Töpfl im Jahr 2020 an die Universität Passau berufen wurde, forschte er als Leiter einer Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe an der Freien Universität Berlin (2014-2019) und als Marie Curie Postdoctoral Fellow an der London School of Economics and Political Science (2012-2014).

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