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"Wer Menschen einen sprachlichen Minderwertigkeitskomplex einredet, behindert Demokratie"

PICAIS-Fellow Prof. Dr. Ingrid Piller forscht zu Sprache und Diversität. Ein Gespräch über Kommunikation ohne gemeinsame Sprache, ihre Wahlheimat Australien und ihre Herkunft im Bayerwald.

Panorama im Bayerischen Wald. Foto: Colourbox

Prof. Dr. Ingrid Piller. 

Ingrid Piller ist Professorin für Angewandte Linguistik an der Macquarie University in Sydney. Die Soziolinguistin forscht zu interkultureller Kommunikation, Mehrsprachigkeit und kultureller Teilhabe. Sie ist Teil des Leitungsteams des Netzwerk Next Generation Literacies, das ihre Heimatuniversität gemeinsam mit der Fudan University in Shanghai und der Universität Hamburg gegründet hat. 2018 erhielt sie den Anneliese-Meier-Preis für ihre Forschungsarbeit, die sie auch außerhalb des akademischen Raums kommuniziert, etwa auf ihrem Blog Language on the Move und auf Twitter. Den Mai 2023 verbringt sie als Gastwissenschaftlerin am Passau International Centre for Advanced Interdisciplinary Studies (PICAIS), und zwar am Lehrstuhl für Englische Sprache und Kultur von Prof. Dr. Daniela Wawra, die zur kollegialen Leitung des PICAIS gehört. Prof. Dr. Piller, die seit 25 Jahren in Sydney in Australien lebt, ist zum ersten Mal an der Universität Passau, aber in der Region daheim: Ursprünglich kommt sie aus der kleinen Gemeinde Achslach im Landkreis Regen. Wenn sie von ihrer Heimat erzählt, fällt sie ins Bairische, über ihre Forschung spricht sie „nach der Schrift“, wie man in ihrer Heimat sagen würden. Das hat Gründe.

Bayerischer Wald oder Australien?

Beides sind Highlights. Zwei sehr schöne Teile der Welt. Sowohl was die Natur anbelangt, als auch was die Kultur und das Lebensgefühl betrifft.

Wie kam die Verbindung nach Passau?

Die ist tatsächlich ganz neu. Ich habe vor einiger Zeit in der Datenbank „Research Professionals“, die meine Heimatuniversität in Sydney anbietet, über das PICAIS gelesen. Die Datenbank schickt mir jede Woche Angebote, die auf mein Forschungsprofil oder mein Karrierestadium zugeschnitten sind. Und so bin ich auf das Research-in-Residence-Fellowship des PICAIS gestoßen und dachte: Mensch, das ist superinteressant, diese Forschungsschwerpunkte zu Migration, Globaler Wandel und Digitalisierung passen genau zu meinen Interessensgebieten. Nachdem ich diesen Teil der Welt eben auch ganz gerne mag, dachte ich mir, das ist eine sehr gute Möglichkeit, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.

Worum geht es in Ihrem Forschungsprojekt am PICAIS?

Ich beschäftige mich mit sprachlicher Vielfalt und sozialer Teilhabe. Momentan arbeite ich an der dritten Edition von einem Lehrbuch, das ich zu interkultureller Kommunikation geschrieben habe. Gerade habe ich vor Studierenden der Universität Passau einen Vortrag über eine meiner Studien gehalten, wie interkulturelle Kommunikation funktionieren kann, wenn man gar keine gemeinsame Sprache hat – und zwar am Beispiel der ersten britischen Siedler in Australien in Jahre 1788 und der ersten Australier, die ja schon seit 60 000 Jahren dort lebten.

Canyons der Blue Mountains im Nationalpark im australischen New South Wales. Foto: Colourbox

Und, wie hat das dann funktioniert?

Das Besondere an den Officers von der First Fleet, also den Befehlshabern der ersten Flotte, ist, dass sie viele Tagebücher geschrieben haben. Sie haben darin auch Beobachtungen aufgeschrieben zu Begegnungen mit der indigenen Bevölkerung. Deswegen wissen wir relativ genau, wie diese abgelaufen sind. Und manchmal kann man daraus auch schließen, was sich die indigene Bevölkerung gedacht hat. Ein Beispiel: Die Briten schreiben ganz viel darüber, wie die Australier stinken, denn die hatten als Sonnenschutzmittel Fischreste benutzt und sich in die Haare geschmiert, ähnlich wie Fischöl. Das schützt vor der Sonne, vor dem Austrocknen, aber es stinkt natürlich aus der Perspektive der Person, die sich nicht damit eingeschmiert hat. Einer schreibt, dass er aus der Reaktion von einem der Indigenen lesen konnte, dass auch dieser umgekehrt angeekelt von den Neuankömmlingen war. Man muss sich das vorstellen: Die Briten sind da im Februar 1788 angekommen, also im Hochsommer, und die hatten diese Filzjacken an. Die haben auch zum Himmel gestunken, nur halt nach Schweiß und filziger, ungewaschener Menschheit.

Das ist auch die Erkenntnis der Studie: Kommunikation mit Händen und Füßen klappt nicht.

Wie haben sie sich unterhalten?

Mit Händen und Füßen, aber das ging nicht gut. Das ist auch die Erkenntnis der Studie: Kommunikation mit Händen und Füßen klappt nicht. Die Officers schreiben, dass es am einfachsten sei, wenn ein Objekt da ist, „something concrete“, aber auch das funktionierte eher mäßig. Die Briten kannten das Wort Känguru, weil Captain Cook ein solches im Norden von Queensland geschossen, ausgestopft und nach England gebracht hatte. Von den dortigen Einheimischen hat er das Wort Känguru gelernt. Die Officers dachten, alle Australier sprechen dieselbe Sprache, aber tatsächlich waren es um die 500 Sprachen. In der Gegend von Sydney kannten sie das Wort nicht. Die dachten, das sei das englische Wort für Tiere. Im heutigen Englisch in Australien sind leider nur wenige indigene Worte erhalten geblieben, darunter hauptsächlich Begriffe für Pflanzen und Tiere.

Prof. Dr. Piller im Gespräch mit ihrer Gastgeberin an der Universität Passau, Prof. Dr. Daniela Wawra. Foto: Uli Schwarz/Universität Passau

Was erhoffen Sie sich von Ihrem Aufenthalt in Passau?

Austausch und Vernetzung mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, und zwar insbesondere in Zusammenhang mit Sprache in Diversitätskontexten. Wie ändert sich Sprache, was müssen wir tun, damit Schulen möglichst inklusiv für unterschiedlich-sprachige Personen sind? Meine Heimatuniversität in Sydney, die Universität Hamburg und die Universität Fudan in Shanghai haben dazu ein internationales Netzwerk gegründet, das Next Generation Literacies Network. Es würde mich freuen, wenn wir auch Verbindungen mit Kolleginnen und Kollegen hier an der Universität Passau herstellen könnten.

Welche Rolle spielt Dialekt in sprachlicher Diversität?

Dialekt ist Teil dessen, dass Sprache divers ist. Es gibt keine homogene Sprache. Jeder Mensch ist mehrsprachig. Auch wer nie Englisch oder Französisch in der Schule gelernt hat, auch wer nur Dialekt spricht, ist mehrsprachig, weil man sich ja immer anpasst. Mit wem spreche ich? Was ist der Kontext? In einem solch halb-offiziellen Interview rede ich anders als zu Hause, wenn ich mich mit der Familie über den Abwasch streite. Das ist uns oft nicht bewusst. Und dann gibt es unterschiedliche Ebenen von Anpassungen. Von daher: Dialekt und Standardsprache sind schon Teil der menschlichen Mehrsprachigkeit. Ich mag meinen Dialekt. Meine Tochter spricht kaum Dialekt, versteht ein bisschen Bairisch, aber sie hat gut Deutsch gelernt, worauf ich auch ein bisschen stolz bin. Denn viele Einwandererkinder sprechen die Sprache der Eltern nicht mehr, oder sie vergessen sie dann wieder, manchmal ist sie ihnen auch peinlich.

Wann kommt das Bairische bei Ihnen durch?

Natürlich wenn ich mit der Familie spreche. Interessanterweise auch, wenn es darum geht, etwas zu charakterisieren. Manche besonders treffende Wörter gibt es in anderen Sprachen einfach nicht. Pfloutsch, zum Beispiel. Kennen Sie das?

Nein.

A Pfloutsch ist jemand, der sich ein bisschen dappig, also dumm, anstellt. Wenn das der Fall ist, würde ich gerne sagen: „So a Pfloutsch“ – aber wenn’s niemand versteht, ergibt es keinen Sinn.

Wie sollte Schule mit Dialekt umgehen?

Ich finde, dass es die Pflicht der Schule ist, den Kindern die Bildungssprache beizubringen. Denn es hat einen Wert, Hochdeutsch zu können, damit sie handlungsfähig bleiben, sich im Zweifel entscheiden können, wie sie sich ausdrücken wollen. Ich komme aus einer älteren Generation und konnte bis zu meinem Studienbeginn in Regensburg kein Hochdeutsch sprechen. Ein Wendepunkt kam in einem Proseminar. Ich habe eine Arbeit über Hölderlin verfasst. Ich war so begeistert, habe mich da richtig reingehängt. Als ich mir die Bewertung abgeholt habe, sagte der Professor zu mir: Eine wirklich erstklassige Arbeit. Es sei ungewöhnlich, dass eine Dialektsprecherin so intelligent sei. Ich war sprachlos und konnte nicht darauf reagieren. Und in mir habe ich eine Wut gespürt, die mich immer noch antreibt, nämlich dass es ungerecht ist, wenn man Dialekt, oder auch Deutsch als Zweitsprache mit einem Akzent spricht, dass man dann für dumm angeschaut wird. Neben der Schule sind auch wir als Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler in der Pflicht. Denn wir müssen uns damit befassen, wie wir das ein bisschen gerechter gestalten, diese Sprachideologien aufbrechen können.

Wer Menschen einen sprachlichen Minderwertigkeitskomplex einredet – im Sinne von, der oder die ist doof, weil er oder sie Dialekt spricht – behindert damit Demokratie.

Inwiefern ist das auch eine Frage, die demokratische Teilhabe betrifft?

Demokratie lebt vom öffentlichen Diskurs. Wir denken das natürlich in erster Linie in Zusammenhang mit Ausländerinnen und Ausländer. Aber das gilt natürlich genauso für Dialektsprechende. Auch da gibt es Generationen, die sich oft nicht beteiligen können. Wer Menschen einen sprachlichen Minderwertigkeitskomplex einredet – im Sinne von, der oder die ist doof, weil er oder sie Dialekt spricht oder Deutsch später im Leben gelernt hat – behindert damit Demokratie. Wir müssen in der Demokratie miteinander reden können. Und das liegt nicht in der Verantwortung der oder des Einzelnen. Wenn ich etwa zugewandert bin, wenn ich als Erwachsene eine komplett neue Sprache lernen muss, dann wird das nicht so schnell gelingen. Nicht etwa, weil ich nicht will, sondern weil es generell schwierig ist, als Erwachsene Sprachen zu lernen, zumal man sich ja auch noch um andere Dinge kümmern muss. Wenn wir in der Gesellschaft einen großen Anteil von Menschen mit diesen Schwierigkeiten haben, dann müssen wir uns überlegen, wie wir effektiv kommunizieren können, wie wir Strukturen schaffen können, damit sich alle beteiligen können. Das wird in gewisser Weise immer einfacher, auch durch neue technische Möglichkeiten und kreative Ideen. Nehmen Sie ein Beispiel aus dem Gesundheitsbereich: In der Notaufnahme haben Sie jemanden vor sich, der oder die nicht Deutsch kann. Nun müssen Sie erst einmal herausfinden, welche Sprache die Person spricht. Das kostet wertvolle Zeit. In den USA haben sie während der Covid-19-Pandemie Kommunikationsgeräte eingeführt, es genügt ein Druck auf einen Knopf, und das Gerät baut Kontakt zu einer Dolmetscherin, einem Dolmetscher auf, der oder die dann über das Gerät mit dem Patienten oder der Patientin sprechen kann. Auch diesen Bereich möchte ich mit meiner Forschung vorantreiben – die Frage, wie uns Technik dabei helfen kann, die Kommunikation zu erleichtern.

Interview: Kathrin Haimerl, Referentin für Forschungskommunikation

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Wenn Sie mit Prof. Dr. Ingrid Piller in Kontakt treten möchten, senden Sie eine Mail an: picais-office@uni-passau.de

Prof. Dr. Daniela Wawra

Prof. Dr. Daniela Wawra

forscht zur Soziolinguistik und zum Kulturvergleich

Wie formen Kultur und Sprache analoge und digitale Interaktionen?

Wie formen Kultur und Sprache analoge und digitale Interaktionen?

Prof. Dr. Daniela Wawra hat den Lehrstuhl für Englische Sprache und Kultur an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau inne. Von 2018 bis 2020 war sie Vizepräsidentin für das Ressort Studium, Lehre und Internationales.

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