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Rückblick und Ausblick auf interdisziplinäre Privatheitsforschung

Das Passauer DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 „Privatheit und Digitalisierung“ kommt zum Ende, doch das Thema ist aktueller denn je: Kollegiatinnen und Kollegiaten aus verschiedenen Disziplinen blicken zurück und voraus – im Video und im Abschlussmagazin.

9 Jahre, 35 Kollegiatinnen und Kollegiaten, 2 Fakultäten: Das Passauer DFG-Graduiertenkolleg 1681/2 hat sich in den vergangenen Jahren den vielschichtigen Spannungsfeldern von Privatheit und Öffentlichkeit zwischen Politik und Wirtschaft, Medien und Gesellschaft sowie individueller und kollektiver Verantwortung in der digitalisierten Gesellschaft von heute und von morgen gewidmet. Wie genau, dazu kommen im Video Kollegsprecher Prof. Dr. Kai von Lewinski, Medienkulturwissenschaftler Dr. Martin Hennig, Philosophin Lea Watzinger und Jurist Felix Sobala zu Wort. Es geht um den Begriff der Privatheit im Wandel der Zeit, im Spiegel von Literatur und Film sowie um nutzerfreundlichere Alternativen zu Datenschutzerklärungen.

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Die Themen im Video geben beispielhaft die Struktur des Kollegs in der zweiten Förderperiode wider: Unterteilt war das Forschungsprogramm in die drei Arbeitsbereiche „Digitalität und Privatheit“, „Überwachung und Kontrolle“ sowie „Selbstbestimmung und Verantwortung“.

Diese Bandbreite der Themen bildete auch die Abschlusstagung im Februar 2021 ab, aus der ein umfangreiches Abschlussmagazin hervorgegangen ist – mit Beiträgen von ehemaligen Doktorandinnen und Doktoranden sowie renommierten internationalen und nationalen Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Die Autorinnen und Autoren nehmen unter anderem Fragen nach Überwachung und Selbstbestimmtheit in digitalen Medien in den Blick, untersuchen historische Wandlungsprozesse von Privatheit und Öffentlichkeit und behandeln auch aktuelle Fragen wie die nach Privatheit in Zeiten der Pandemie.

Die Beiträge im Überblick

1. Transformationen des Privaten

Kai von Lewinski: Die Borkenstruktur des Datenschutzes am Baum der Privatheit im Wald der Datenmacht

Kai von Lewinski nimmt eine juristische Perspektive ein und rekonstruiert kritisch die Grenzen der gegenwertigen Gesetzgebung im Bereich des Informationsrechts und des Datenschutzes, die äußerst individualistisch vorgehen. Das Datenschutzrecht fokussiert auf den einzelnen Datenverarbeitungsschritt in Bezug auf eine bestimmte ›betroffene Person‹ und kann daher die gegenwärtigen informationellen Vermachtungen kaum fassen. Der Artikel plädiert dafür, die interdisziplinäre Perspektive auf Privatsphäreschutz weiterzuverfolgen, die im Graduiertenkolleg entwickelt wurde. 

Julia Maria Mönig: Von der Privatheit(-sforschung) zur (Werte-)Ethik

Julia Maria Mönig formuliert in ihrem Beitrag ein Zwischenfazit der bisherigen Privatheitsforschung, indem sie hier einen ›ethical turn‹ konstatiert. Am Beispiel der Covid-19-Pandemie stellt sie die drei Privatheitsdimensionen nach Rössler dar und zeigt dabei auf, wie diese unmittelbar ethische und prinzipielle Fragen aufwerfen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und welche Werte dabei gelten sollen. Die Erweiterungen der Privatheitsforschung um das ethische Moment zeigen sich insbesondere in der Technologie- und KI-Forschung, in denen ethische Leitlinien zukünftig erstellt und umgesetzt werden müssen. 

Birgitt Riegraf: Die Sphäre der Privatheit in Zeiten der Digitalisierung

Birgitt Riegraf versucht sich an einer soziologischen „Neudefinition“ der „Privatheit“, die im Zuge der zu beobachtenden Digitalisierungs- und damit verbundenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse notwendig geworden ist. Digitalisierungsprozesse führen zur Grenzverschiebungen und -verwischungen, wenn nicht gar zu Grenzauflösungen zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre, wobei die Grenzziehung zwischen den Sphären des „Privaten“ und des „Öffentlichen“ eine grundlegende Säule in der Konzeption liberaler Gesellschaften darstellt.

Beate Rössler: Was bedeutet es, in der digitalen Gesellschaft zu leben? Zur digitalen Transformation des Menschen

Menschliche Handlungen werden zunehmend von digitalen Technologien übernommen und diese immer weitreichender in soziale Praktiken integriert. Personen, Beziehungen und soziale Strukturen unabhängig von digitalen Technologien zu verstehen, wird dabei quasi unmöglich. Beate Rössler beschäftigt sich aus philosophischer Perspektive mit den grundlegenden Konsequenzen der technischen und digitalen Umwälzungen für das menschliche Leben und prüft, ob diese lediglich auf menschliche Verhaltensweisen wirken und gar auf die menschliche Natur – ein Begriff, der dazu diskutiert wird.

2. Medien und Kulturen des Privaten

Petra Grimm: Mediatisierte Privatheit in der Corona-Pandemie

Petra Grimm geht der Frage nach, inwiefern die Corona-Pandemie die Bedeutung von Privatheit in der Alltagswelt verändert hat. Hierzu leitet sie eingangs neue gesellschaftliche Narrative zur Privatheit unter Pandemie-Bedingungen aus dem gesellschaftlichen Diskurs ab. Hieran anknüpfend untersucht sie Privatheitsmodelle anhand fiktionaler Medientexte, die während des Lockdowns im Frühjahr 2020 entstanden sind (u.a. die Drama-Serie Liebe jetzt! und die Comedy-Serie Drinnen. Im Internet sind alle gleich). Dabei zeigt sie, inwiefern die Beschränkung auf den privaten Raum als Identitäts- oder Beziehungskrise verhandelt wird und macht auch Gendereffekte sichtbar, insofern die Krise je nach Geschlecht der Protagonist:innen unterschiedlich erzählt wird.

Kai Erik Trost: Person(en) sein können – die heutige Privatheit aus einer sozialräumlichen Perspektive

Kai Erik Trost nimmt eine soziale Perspektive auf Privatheit ein. In seinem Dissertationsprojekt am Graduiertenkolleg untersucht er die Semantiken des Freundschaftsbegriffs innerhalb digital kommunizierender jugendlicher Freundeskreise im Rahmen einer empirischen Interviewstudie. Im Magazinbeitrag stellt er anhand eines Interviewbeispiels Teilergebnisse seiner Arbeit vor. Dabei zeigt sich, dass Privatheit stets dynamisch und kontextspezifisch zu denken ist. Aus sozialräumlicher Sicht schafft Privatheit einen Rahmen, um als Person in Form unterschiedlicher Erscheinungen aufzutreten und dabei verschiedene Identitätsaspekte herausstellen zu können.

Marcel Schlegel: Aufenthaltsstatus: ungeklärt – Was Polit-Influencer:innen für Meinungsführer und Öffentlichkeitskonzepte bedeuten

Wer politische Influencer:innen mit jenen Konzepten zu erklären versucht, die Medien- und Kommunikationswissenschaft bisher bereitstellen, muss scheitern, weil diese Disziplinen ihre Theorien in Abhängigkeit zu den Massenmedien formulierten. Denn wo vormals private Akteur:innen über Soziale Medien an öffentliche Sprecherrollen gelangen, offenbaren jene Theoriestränge Lücken, die sich bis dato unabhängig voneinander mit Einflusspersonen beider Sphären auseinandersetzen. Diesem Defizit nähert sich Marcel Schlegel an. Sein Vorschlag: Erst wenn man Meinungsführer- und Öffentlichkeitstheorien miteinander verbindet, lässt sich die kommunikative Rolle der neuartigen Online-Einflusspersonen beschreiben.

Carsten Ochs: Lost in Transformation? Einige Hypothesen zur Systematik der Strukturtransformation informationeller Privatheit vom 18. Jh. bis heute

Carsten Ochs entwirft in seinem Beitrag den Versuch einer sozialhistorischen Systematik, die den Wandel informationeller Privatheit kategorisch nachzuzeichnen will. Dabei zeigt er auf, wie sich Praktiken informationeller Privatheit im 18. Jh. Zunächst als „bürgerliche Privatheitstechniken“ unter einem „Ehrschutzprinzip“ herausbilden, sich im Verlauf in Richtung „Rückzugstechniken“ transformieren und in einer digital-vernetzten Gesellschaft eher Techniken der individuellen Informationskontrolle vorherrschen. Es bleibt abzuwarten, welchem Prinzip die informationelle Privatheit im 21. Jh. folgen wird.

3. Schutz(-räume) des Privaten

Tobias Keber: Datenschutz und Mediensystem – Altersverifikation und Uploadfilter aus intradisziplinärer Perspektive

Tobias Keber legt dar, warum Datenschutz und Jugendmedienschutz gemeinsam gedacht werden müssen. Am Beispiel von entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten bei TikTok zeigt er Konfliktlinien zwischen dem Datenschutzrecht und den Medien und Informationsfreiheiten auf und macht deutlich, dass für eine angemessene Symmetrie sowohl ein Ausgleichswerkzeug als auch ein fachgebietsübergreifender Austausch notwendig sind.

Alexander Krafka: Einigkeit und Recht und Sicherheit – Das Sicherheitsdispositiv als aktuelles Paradigma der Privatheitskultur

Was haben Freiheit, Gleichheit und Sicherheit mit Sex, Drugs and Rock 'n' Roll zu tun? Unter anderem dieser Frage geht Alexander Krafka in seinem Beitrag nach. Anhand der Elemente dreier Trinitäten untersucht der Jurist, was es bedeuten könnte, wenn sich eine Gesellschaftsordnung dem Sicherheitsparadigma verschreibt. Er deckt dabei die gleichsam paradoxe Konsequenz auf, dass Sicherheit ebendies, was sie zu schützen vorgibt, immer auch in Gefahr bringen kann: nämlich die Freiheit. Und damit auch die Privatheit.

Stephanie Schiedermaier: Das Recht auf Vergessenwerden zwischen Luxemburg, Straßburg, Karlsruhe und der Welt

Stephanie Schiedermair befasst sich aus internationaler Perspektive mit dem „Recht auf Vergessenwerden“ und nimmt dabei die weltweite Rezeption, die Unterschiede nationaler Rechtsordnungen und die vielfältigen Herausforderungen mit in den Blick. Sie diskutiert die weltweiten Auswirkungen des Google Spain Urteils und geht der Frage nach, wie darauffolgende Gerichtsentscheidungen und Gesetzgebungsprozesse das Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen im Internet balancieren zu versuchen.

Ralf Müller-Terpitz: Mediale Öffentlichkeit vs. Schutz der Privatheit – Juristische Grenzverschiebungen durch die Digitalisierung?

Weil private Vorgänge und sensible Informationen im Internet immer auch in öffentliche Kontexte gelangen und dort potenziell dauerhaft verfügbar sein können, hat das Netz die Rechtsprechung von Beginn an vor schwierige Abwägungsentscheidungen gestellt: zwischen dem Recht auf Privatheit und jenem auf Information und Kommunikation. In welche Richtung das Pendel der Rechtsprechung in den vergangenen Jahren ausschlug, hat Ralf Müller-Terpitz untersucht und dabei eine klare Tendenz ausgemacht.

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