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6. Januar 2021 - Brennglas der US-Geschichte

Der Tag begann mit einer hoffnungsfrohen Nachricht aus Georgia, er endete mit einem beispiellosen Angriff auf die Demokratie: Die Ereignisse des 6. Januar stehen für den Widerstreit zweier ur-amerikanischer Kräfte. Von Dr. Viola Huang

Der 6. Januar 2021 sollte zunächst mit hoffnungsvollen Nachrichten aus Georgia in die Geschichte eingehen, die so nicht zu erwarten waren. Der Tag endete mit einem beispiellosen Angriff auf die amerikanische Demokratie, die alle aufmerksamen Beobachterinnen und Beobachter hätten voraussehen müssen. Die Ereignisse am vergangenen Mittwoch stehen für den Widerstreit zwischen Demokratie und Autoritarismus, zwischen Teilhabe und Rassismus, der zutiefst in die amerikanische Gesellschaft eingeschrieben ist. Ich als Historikerin sehe nicht nur Parallelen zur Phase der Reconstruction nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs im 19. Jahrhundert. Die Spannungen, die sich am 6. Januar 2021 entladen haben, lassen sich bis in diese Zeit zurückverfolgen.

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Dr. Viola Huang

forscht zu sozialen Bewegungen in den USA

Was können wir aus Brüchen und Kontinuitäten in der US-Geschichte lernen und auf die Gegenwart übertragen?

Was können wir aus Brüchen und Kontinuitäten in der US-Geschichte lernen und auf die Gegenwart übertragen?

Die Historikerin Dr. Viola Huang (Ph. D. , Columbia University Teachers College) ist Mitarbeiterin an der Professur für Didaktik der Geschichte und im interdisziplinären Projekt SKILL.de. Sie betreibt einen Blog, in dem sie aktuelle Debatten um rassistische Gewalt aufgreift und historisch einordnet.

Aber zunächst zurück in die Gegenwart.

Georgia: Sieg der Demokraten – und der Demokratie

Der Mittwoch begann mit der Nachricht, dass die Demokraten sich in der Stichwahl um die beiden Senatssitze des Staates Georgia mit knapper Mehrheit durchgesetzt hatten. Das Ergebnis ist nicht nur deshalb bedeutsam, weil die demokratische Partei damit nun im Oberhaus des Kongresses die Mehrheit errungen hat. Auch symbolisch und aus antirassistischer Perspektive ist dieser Wahlsieg von historischer Natur: Jon Ossoff wird Georgias erster jüdischer Senator, Raphael Warnock Georgias erster afroamerikanischer Senator - ausgerechnet in jenem Staat im von Republikanern dominierten Süden, in dem im Jahre 1915 der rassistische und terroristische Ku Klux Klan wiedergegründet wurde. Warnock ist im Übrigen erst der vierte schwarze Senator aus den Südstaaten – und das obwohl die ersten beiden schwarzen Senatoren bereits in den 1870er Jahren den Staat Mississippi im amerikanischen Oberhaus vertreten hatten.

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Verantwortlich dafür, dass es fast 150 Jahre dauerte, bis ein schwarzer (demokratischer) Senator einen der Südstaaten vertritt, ist aber nicht die demografische Zusammensetzung des Südens. Immerhin leben etwa 58 Prozent der schwarzen Bevölkerung in den Südstaaten. Gründe dafür, dass diese Staaten fest in konservativer, weißer Hand sind, sind vielmehr weiße Vorherrschaft, und die Auswirkungen von aktiven Versuchen, die schwarze Bevölkerung systematisch zu entmachten, etwa in Form von Voter Suppression, also dem Versuch, Menschen am Wählen zu hindern. Hatten Schwarze in der Phase der Reconstruction, also direkt im Anschluss an die Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1865, endlich politische Rechte und gesellschaftliche Teilhabe erkämpft und waren vielerorts in lokale, regionale oder gar nationale Parlamente gewählt worden, so unterdrückte das weiße Establishment der Südstaaten diese Entwicklungen massiv und mit zunehmendem Erfolg: Lokale Gesetze der rassistischen Segregation verdrängten Schwarze aus dem öffentlichen Leben, degradierten sie zu Menschen zweiter Klasse und entzogen ihnen das gerade erfochtene Wahlrecht. Anfang des 20. Jahrhunderts erreichte rassistische Gewalt in Form von Lynchjustiz einen neuen Höhepunkt.

Das Ergebnis der Wahl in Georgia lässt sich deshalb durchaus als eine Art „dritte Reconstruction“ verstehen (im Anschluss an die "zweite Reconstruction" der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre): Hier zeigt sich der Erfolg des unermüdlichen und jahrelangen Einsatzes nicht-weißer und progressiver Wählergruppen sowie schwarzer Aktivistinnen und Aktivisten wie Stacey Abrams. Der Mittwoch im Januar 2021 begann also mit einem Versprechen, die Vorherrschaft einer reaktionär-konservativen politischen Minderheit in den Südstaaten aufzubrechen und die USA insgesamt schrittweise zu einer egalitären, nicht-rassistischen Demokratie zu transformieren

Dass Entwicklungen hin zu größerer Teilhabe marginalisierter Gruppen in den USA jedoch aktuell wie geschichtlich regelmäßig mit massivem, auch gewalttätigem, Widerstand begegnet wird, zeigte sich eindrücklich im weiteren Verlauf dieses historischen Mittwochs in der Hauptstadt. 

Washington, D.C.: Angriff auf Demokratie und Verteidigung von White Supremacy

Im Gegensatz zum Wahlergebnis aus Georgia zeichneten sich die Szenen, die sich im Laufe des Tages in Washington, D.C., abspielen sollten, für politische Beobachterinnen und Beobachter schon lange ab. Der noch amtierende US-Präsident Donald Trump und seine Gefolgschaft ließen nichts unversucht, um verbal, gerichtlich und politisch die Wahl Joe Bidens für ungültig zu erklären, Zweifel zu säen und an der Macht festzuhalten. Auch wenn Sicherheitsbehörden nun behaupten, über kein Bedrohungsszenario informiert gewesen zu sein, so haben Expertinnen und Experten seit Wochen dokumentiert und Alarm geschlagen, dass eine diffuse Koalition aus radikalen Trump-Fans, Rechtsextremisten und -extremistinnen und Verschwörungstheoretikern im Internet offen und mit kriegerischer Rhetorik einen Sturm aufs Kapitol plante und ankündigte.

Dieser Angriff aufs Parlament der USA muss dabei als mehr verstanden werden als ein aus dem Ruder gelaufener Protest oder Krawall: Es handelte sich um einen Angriff auf die demokratischen Strukturen der USA. Ziel war es, die Zertifizierung einer freien, demokratischen Wahl zu verhindern, und somit de facto gegen eine neu gewählte Regierung zu putschen. Videoaufnahmen von vermummten Milizionären und aufgefundene Rohrbomben in der Nähe des Kapitols deuten darauf hin, dass einzelne paramilitärische Zellen durchaus geplant hatten, weiter zu gehen. Nicht zuletzt der vom FBI im Oktober vereitelte Plot rechter Milizangehöriger, die Gouverneurin des Staates Michigan zu entführen und die Staatsregierung zu stürzen, untermauern das gewalttätige Potenzial der extremen Rechten. 

Auch wenn die Ereignisse des 6. Januars in vielerlei Hinsicht historisch einzigartig sind, so sind sie nicht ohne Parallelen. Ein gewalttätiger Backlash gegen den (potenziellen) Verlust weißer Vorherrschaft ist wiederholt Bestandteil amerikanischer Geschichte. So zum Beispiel am 10. November 1898 in Wilmington, North Carolina. Die Stadt in dem Südstaat war vergleichsweise integriert. Die schwarze Bevölkerung arbeitete in angesehenen Berufen, als Polizisten, Feuerwehrmänner oder Richter, weiße wie schwarze Stadträte bildeten die Lokalregierung. Mit der wachsenden Teilhabe der Schwarzen wuchs das Ressentiment der Weißen. Hunderte weiße Bürgerinnen und Bürger verfassten eine “White Declaration of Independence”, in der sie erklärten, sich nie wieder von schwarzen Menschen regieren zu lassen. Dieser Aufstand gipfelte schließlich in einem Coup weißer Suprematisten und einem Massaker an der schwarzen Bevölkerung. 

Rolle des weißen politischen Establishments

Damals wie heute richtet sich die Gewalt gegen Institutionen, Journalistinnen und Journalisten sowie Abgeordnete, die für eine integrierte Vertretung aller Bevölkerungsgruppen eintreten und somit – in den Augen der extremen Rechten – die uneingeschränkte Macht des weißen Establishments untergraben. Wie in Wilmington 1898 spielt auch in Washington 2021 das weiße politische Establishment eine zentrale Rolle: Waren damals Geschäftsleute und Veteranen die treibenden Kräfte des Lynchmobs und machten einige der Putschisten später politische Karriere als Senatoren und Kongressabgeordnete, so fanden sich im Januar 2021 Berichten zufolge Veteranen von Militär- und Polizeiangehörigen genauso wie Führungskräfte aus der Wirtschaft unter denen, die das Kapitol stürmten. Mehr noch: Es waren der scheidende Präsident selbst sowie seine Berater und Anwälte, die explizit und wiederholt zum gewaltsamen Angriff auf das Kapitol aufriefen; und sogar nach diesem letztlich erfolglosen gewaltsamen Sturm des Kapitol-Gebäudes stimmten insgesamt 147 republikanische Kongressangehörige gegen die offizielle Zertifizierung des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl.

Neuer Tiefpunkt im Widerstreit ur-amerikanischer Kräfte

Auch deshalb steht der 6. Januar 2021 für die Fragilität staatlicher Institutionen und zeigt die Bereitschaft weiter Teile der republikanischen Partei, Autoritarismus als Strategie zum eigenen Machterhalt zu akzeptieren. Möglicherweise hätten andere Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus dazu geführt, dass Trumps derzeitiger Versuch der Machtergreifung erfolgreicher verlaufen wäre.

Dieser Mittwoch im Januar 2021 repräsentiert damit einen neuen Tiefpunkt im Widerstreit zweier ur-amerikanischer Kräfte: des progressiven Strebens nach einer inklusiven Demokratie und Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen einerseits und des Erhalts einer ausschließenden, unterdrückenden und gewaltförmigen weißen Vorherrschaft andererseits. Die Bevölkerung hatte sich bereits bei der Wahl im November 2020 gegen eine reaktionäre, autoritaristische und chauvinistische Agenda Trumps und der republikanischen Partei ausgesprochen: Für Joe Biden stimmten 81 Millionen US-Bürgerinnen und Bürger – das beste Ergebnis in der US-Geschichte. Allerdings errang Donald Trump andererseits 74 Millionen Stimmen. Laut einer repräsentativen Umfrage befürwortet fast die Hälfte der republikanischen Wählerschaft den Sturm auf das Kapitol-Gebäude. 

Im 19. Jahrhundert endete die Phase der Reconstruction mit einer massiven, rassistischen Unterdrückung. Heute sei die USA wieder an einem solch historischen Scheideweg angelangt, schreibt ein US-Historiker auf Twitter:

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Der 6. Januar 2021 jedenfalls hat gezeigt: Der Kampf um die Zukunft der USA – ob diese in einer multi-ethnischen Demokratie mit gleicher und gerechter Teilhabe für alle liegt oder in reaktionärer weißer Vorherrschaft – ist mit dem offiziellen Ende der Ära Trump alles andere als entschieden.

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