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"Das könnte selbst für Putin zur Gefahr werden"

Forschungsschwerpunkt Europa: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen befassen sich mit den politischen, historischen und kulturellen Dynamiken. Für uns ordnen sie aktuelle Entwicklungen und Hintergründe zum Ukraine-Krieg ein. Teil 3: Interview mit dem Kommunikationswissenschaftler und Osteuropa-Experten Prof. Dr. Florian Töpfl über die Risiken der russischen Medienstrategie.

Im Bild oben zu sehen ist ein Blogger in Moskau, der mit seinem Handy 2019 einen Marsch zur Erinnerung an die Ermordung des russischen Reform-Politikers Boris Nemzow dokumentierte. Foto: Adobe Stock 

Prof. Dr. Florian Töpfl

Prof. Dr. Florian Töpfl

Prof. Dr. Florian Töpfl ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Kommunikation mit Schwerpunkt auf Osteuropa und die postsowjetische Region an der Universität Passau. Er leitet ein vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördertes Projekt zu den „Auswirkungen der Digitalisierung auf Russlands informationellen Einfluss im Ausland“.

Das folgende Gespräch erschien am 1. März 2022 im Kölner Stadt-Anzeiger. Geführt wurde es von dem Journalisten Uli Kreikebaum. Inzwischen haben Russlands Behörden ihr Vorgehen gegen kritische Berichterstattung massiv verschärft.  Für die Verbreitung kritischer Informationen zum Ukraine-Krieg droht eine langjährige Haftstrafe. Unabhängige Medien wurden verboten. Die russische Medienaufsicht hat den Zugang zu Facebook und Twitter gesperrt.

In Russland gab es neben den Staatsmedien immer auch regierungskritische Zeitungen, Rundfunksender und Blogs. Wie groß ist der Einfluss von regimekritischen Medien in Russland aktuell noch?

Mittlerweile sind alle reichweitenstarken russischen Medien staatlich gelenkt. Den Anteil der Bevölkerung, der sich über regierungskritische Medien informiert, hätte ich – zumindest vor dem Kriegsausbruch – auf deutlich unter zehn Prozent geschätzt. In Umfragen nennen 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung die großen nationalen Fernsehkanäle als Hauptinformationsquellen. Letztere werden vom Kreml gesteuert. Ich beobachte die russischen Staatsmedien seit mehr als zehn Jahren. Gerade seit der Annexion der Krim hat sich die Berichterstattung zunehmend militarisiert.

Was heißt das?

In den Hauptnachrichtensendungen tauchten immer häufiger Bilder von Waffen und Gefechten auf. Berichtet wurde über neue Raketentechnik, Übungen der Armee und Militärmessen. Medial wurde so eine Welt gezeichnet, in der Waffen und Militär Teil des Alltags sind, in der internationale Konflikte regelmäßig mit Gewalt gelöst werden und in der Russland von einer Schar böswilliger Feinde umgeben ist. Dies zu beobachten hat mich schon lange vor der jüngsten Eskalation mit großer Sorge und Traurigkeit erfüllt.

Von welcher Erzählung wurden die Bilder begleitet?

Die Aggression gegen die Ukraine wurde mit der Gefahr der Ausdehnung der Nato nach Osten begründet, die als massives Sicherheitsrisiko dargestellt wurde. Ein zweites, aus westlicher Sicht kaum nachvollziehbares Argument war ein vermeintlicher „Genozid“ in Donezk und Luhansk. Die UN-Definition von Völkermord gibt diese Interpretation nicht her.

Spontan denkt man: Jetzt ist Putin völlig durchgedreht …

Dass vielen Russinnen und Russen derartige Narrative plausibel erscheinen, lässt sich nur dadurch erklären, dass sie seit Jahren in einer medialen Welt leben, in der die Geschichte ihres Landes und das tagesaktuelle Geschehen aus einer völlig anderen Perspektive erzählt werden. Man kann sich das vielleicht vorstellen wie ein riesiges Gemälde mit unzähligen Details, das in den Köpfen der Menschen über viele Jahre gezeichnet wurde. Die Begründung der jüngsten Aggressionen ist dabei nur eine weitere Szene, die sich mit einigen wenigen Pinselstrichen perfekt in die Komposition einfügt. Anders ausgedrückt: Plausibel und stimmig erscheinen viele Argumente Putins nur Menschen, die seit Jahren in dieser medial vermittelten Welt leben. Das Bedauerliche ist: Umgekehrt ist es leider genauso. Viele der Argumente, die wir Europäer für Sanktionen und Waffenlieferungen ins Feld führen, werden für langjährige Publika der russischen Staatsmedien keinen Sinn ergeben.

Eines der nicht nachvollziehbaren Argumente ist die „Entnazifizierung“ der Ukraine.

Ja, so ist es. Tatsächlich gibt es einige durchaus zweifelhafte Figuren der ukrainischen Geschichte, die man als „Nazis“ bezeichnen kann und die von einigen Gruppen in der heutigen Ukraine verehrt werden. Diese Problematik wurde in der Erzählung der russischen Staatsmedien seit Monaten stark in den Vordergrund gerückt. Putin geht nun einen Schritt weiter und fordert eine umfassende „Entnazifizierung“ der Ukraine. Das macht vielen Menschen vor Ort große Angst. Sie befürchten, dass die neuen Machthaber nach dem Umsturz unter dem Banner der „Entnazifizierung“ nicht nur gegen Rechtsextreme – sondern gegen alle dem Westen und der Demokratie zugeneigten Personen vorgehen werden. Also gegen Aktivisten, politische Eliten, Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten. Mit welchen Mitteln ist unklar. Die derzeitige ukrainische Führung als Nazis zu bezeichnen scheint jedoch selbst in den aktuellen Narrativen des Kremls kaum plausibel.

Selbst der russische Botschafter in Brüssel hatte vor einigen Tagen in einem Interview Schwierigkeiten zu erklären, aus welchen Gründen Selenskyj eigentlich gestürzt werden soll.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist Jude – und soll Nazi sein.

Selbst der russische Botschafter in Brüssel hatte vor einigen Tagen in einem Interview Schwierigkeiten zu erklären, aus welchen Gründen Selenskyj eigentlich gestürzt werden soll. Auf die Fragen, ob Selenskyj an einem Genozid eine Mitschuld trage oder ob er von der Entnazifizierungskampagne betroffen sein könnte, wich er aus. Er wollte diese Urteile den „neuen Behörden in Kiew“ nach dem Machtwechsel überlassen. Alles in allem scheinen mir die Narrative, mit denen die russischen Aggressionen seitens der Staatsmedien derzeit gerechtfertigt werden, auffallend unausgegoren und inkohärent. Einige Teile des Puzzles passen – anders als in der Vergangenheit – dieses Mal einfach nicht zusammen. Strategische Narrative müssen in rascher Abfolge geändert werden – auch weil sich die Lage nicht so entwickelt, wie man offensichtlich erwartet hat. Es wird deshalb meines Erachtens eine große Herausforderung für die russischen Eliten, die sich für die nächsten Wochen abzeichnenden Ereignisse vor der russischen Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Das könnte sogar für Putin selbst zur Gefahr werden.

Ist zu erwarten, dass russische Medien jetzt noch stärker gleichgeschaltet werden?

Ja. Regierungskritische Journalisten und Medien müssen noch härtere Repressionen befürchten. Die russische Führung hat am Wochenende angekündigt, Twitter zu verlangsamen und Facebook teilweise zu sperren. Kritische Medien wurde unter Androhung von Schließung aufgefordert, die Geschehnisse in der Ukraine nicht mehr als „Krieg“, „Invasion“ oder „Angriff“ zu bezeichnen. Stattdessen sollen sie künftig den offiziellen Terminus „Spezialoperation“ benutzen. Neu sind diese Repressionen nicht. Die Medienfreiheit in Russland wurde bereits im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts immer weiter eingeschränkt. Im vergangenen Jahr wurden beispielsweise viele kritische Journalisten und Medien offiziell als „ausländische Agenten“ deklariert. Eine wichtige Folge war, dass diese Medien weitgehend von Werbeeinnahmen abgeschnitten wurden. Bereits vor einigen Wochen hat der Kreml nahezu alle kritischen Medien aufgefordert, alle Enthüllungen der investigativen Journalisten rund um Alexei Nawalny aus den Archiven zu löschen. Diese Reportagen enthalten umfassende Informationen über den Besitz und die Korruption der Regierung und ihrer Günstlinge. So musste etwa auch das Video entfernt werden, das von „Putins geheimem Palast“ an der Schwarzmeerküste berichtete.

Sollte Putin die zu erahnenden innenpolitischen Erschütterungen der nächsten Wochen im Amt überstehen, wird das russische politische System danach ein grundlegend anderes sein. Es wird keine semikompetitiven Wahlen mehr geben.

Wieso ließ Putin kritische Öffentlichkeit so lange zu?

Die Existenz kritischer Medien war lange Zeit ein wichtiges Element der Legitimationsstrategie der russischen Führung. Selbst in den Staatsmedien wurde ganz klar die Botschaft vermittelt, dass Russland eine Demokratie sei. Entsprechend beanspruchte Putin für sich, aufgrund von „freien“ und fairen Wahlen zur Herrschaft ermächtigt zu sein. Diese Behauptung wäre den eigenen Bürgern nicht plausibel erschienen, hätte es bei den Wahlen nicht zumindest einige halbwegs aussichtsreiche Gegenkandidaten gegeben und einige kritische Medien, die diese Kandidatinnen unterstützten. Deshalb bedeutet die sich nun abzeichnende Zensur aller kritischer Medien auch einen grundlegenden Wandel der russischen Herrschaftsstruktur. Sollte Putin die zu erahnenden innenpolitischen Erschütterungen der nächsten Wochen im Amt überstehen, wird das russische politische System danach ein grundlegend anderes sein. Es wird keine semikompetitiven Wahlen mehr geben.

Hat der Westen Möglichkeiten, Einfluss auf russische Medien zu nehmen?

Einige Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft fordern, dass wichtige Moderatoren und Chefredakteure russischer Staatsmedien ähnlich wie Politiker mit harten Sanktionen belegt werden sollten. Der Forderung würde ich mich anschließen. Russlands führende Journalisten tragen Putins Linie mit und sind wohl mindestens ebenso mächtig wie Parlamentarier.

Welche Fragen haben Sie zum Angriff auf die Ukraine? Schreiben Sie uns: frag-die-wissenschaft@uni-passau.de - wir leiten Ihre Fragen weiter und veröffentlichen an dieser Stelle zeitnah Antworten von Forschenden.

Weitere Einschätzungen

Unabhängigkeitsdenkmal der Ukraine auf dem Majdan Nesaleschnosti in Kiew. Foto: Adobe Stock

Digitale Propaganda, Putins Geschichtsbild, Cyberkrieg, wirtschaftliche Folgen: Einschätzungen von Passauer Forschenden zu den Hintergründen und aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg.

Stellungnahme der Universitätsleitung

Präsident Prof. Dr. Ulrich Bartosch äußert sich in einer Videobotschaft zur Haltung der Universität angesichts des Kriegsgeschehens und erläutert die derzeitigen Hilfs- und Handlungsmöglichkeiten.

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