Zum Inhalt springen

„Corona hat in der Lehre ein Umdenken bewirkt“

Die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie haben Hochschulen und Universitäten vor große Herausforderungen gestellt: Lehrveranstaltungen und Prüfungen in Präsenz mussten in kurzer Zeit durch Online-Formate ersetzt werden. Dr. Tamara Rachbauer und PD Dr. Ulrike Hanke, Expertinnen für Hochschuldidaktik und Teilnehmerinnen am Frauen-Mentoring-Programm der Universität Passau, sehen in dieser Umstellung eine große Chance. Ein Gespräch über die Vorteile digitaler Prüfungen, die Voraussetzungen gelungener Online-Lehre und die Überlebenschancen der klassischen Vorlesung. 

Wie muss Online-Lehre gestaltet sein, damit Studierende möglichst viel aus den Lehrveranstaltungen mitnehmen?

PD Dr. Ulrike Hanke: Bei der Online-Lehre muss es eine Kombination geben aus asynchronen Phasen, also Phasen des Selbststudiums, und synchronen Phasen mit gemeinsamen Videositzungen. Das A und O bei der Online-Lehre ist meiner Erfahrung nach der Beziehungsaufbau zu den Studierenden, den man deutlich bewusster angehen muss als gewöhnlich. Auch der Beziehungsaufbau unter den Studierenden ist wichtig. In Präsenzveranstaltungen sitzen sie nebeneinander, sie gehen danach zusammen in die Cafete oder in die Bibliothek. Da muss ich als Lehrende nicht viel tun. In der virtuellen Präsenz bleibt hingegen wenig Raum für sozialen Austausch. Deswegen braucht es hier mehr Zeit und Investment, damit die Studierenden auch untereinander Beziehungen aufbauen können. Vorstellungsrunden zum Einstieg oder Fragen nach der aktuellen Verfassung sind nur zwei Beispiele. Wenn das gelingt, kann auch virtuelle Lehre sehr gut funktionieren.

Brauchen die Lehrenden besondere Fähigkeiten, um diesen Beziehungsaufbau virtuell hinzubekommen?

Hanke: Voraussetzung ist die Einsicht, dass der Aufbau von Beziehungen wichtig ist. Dadurch wird meine Rolle als Dozentin auch facettenreicher. Ich bin eben nicht nur die Expertin meines Faches, die sich vorne hinstellt und Wissen vermittelt. Die Vorstellung, dass Wissensvermittlung die alleinige Aufgabe sei, ist in der Hochschullehre leider immer noch weit verbreitet. Doch das wandelt sich glücklicherweise. Viele Kolleginnen und Kollegen haben auch schon vor Corona Veranstaltungen aufgelockert und beispielsweise Seminargespräche oder Diskussionen eingeführt. In der Online-Lehre ist das umso wichtiger, damit man die Studierenden überhaupt erreicht.

Pandemiebedingt haben sich Dr. Tamara Rachbauer und PD. Dr Ulrike Hanke bisher noch nicht persönlich getroffen, sondern ausschließlich virtuell. Ihr Austausch im Mentoring-Tandem war dennoch sehr eng und produktiv.

Wie schafft man es, in digitalen Prüfungen genau die Kompetenzen der Studierenden zu prüfen, die tatsächlich geprüft werden sollen und nicht die Kompetenz, möglichst schnell etwas nachzuschlagen oder zu googlen?

Dr. Tamara Rachbauer: Die Herausforderungen beim digitalen Prüfen sind ähnlich wie bei klassischen Prüfungen in Präsenz. Stichwort: Constructive Alignment. Das heißt, Lernziele, Lehr-und Lernsetting sowie Prüfungsform sollten bestmöglich aufeinander abgestimmt sein. Sinnvoll ist es auch, einen Theorie-Praxis-Transfer zu prüfen. Man fragt also zunächst die Theorie ab und fordert dann dazu auf, diese anhand eines Praxis-Beispiels zu erläutern. In der Rechtswissenschaft ist das schon lange etabliert. Dort prüft man mit Fallbeispielen, was auch online sehr gut funktioniert. Von Vorteil beim digitalen Prüfen ist, dass man ortsunabhängig prüfen kann und auch keine Probleme beim Entziffern von Handschriften hat. Die Sicherung der Prüfungen ist ebenfalls leichter, weil bereits alles digital vorliegt. 

Constructive Alignment:

Unter Constructive Alignment ist ein Lehrkonzept zu verstehen, bei dem Lernziele, Lehr-/Lernsetting und Prüfungsform(en) bestmöglich aufeinander abgestimmt sind. Im praktischen Einsatz bedeutet das, dass Lehrende bei der Planung ihrer Lehrveranstaltung mit der Festlegung der zu erreichenden Lernziele beginnen, die Lehr-/Lernmethoden darauf abstimmen und die Prüfungsforme(en) so wählen, dass sich mit dieser die vorgegebenen Lernziele überprüfen lassen. Diese drei Elemente, also die Lernziele, das Lehr-/Lernsetting und die Prüfungsform(en), werden im Constructive Alignment auch als goldenes Dreieck bezeichnet (Gallagher, 2017; http://ojs.aishe.org/index.php/aishe-j/article/view/301/504)

Hat das digitale Prüfen also gar keine Nachteile?

Rachbauer: Nein, ich sehe keine. Neben den schon genannten Vorteilen ist auch die Einsichtnahme viel unkomplizierter, weil keine Klausuren herausgesucht werden müssen. Das Eintragen der Noten ist ebenfalls deutlich zeitsparender als bei Prüfungen in Präsenz. Voraussetzung für virtuelle Prüfungen ist aber natürlich eine stabile Internetverbindung. Die Serverstabilität an der Universität Passau war bisher immer gegeben. Da ist glücklicherweise noch nie etwas abgestürzt, auch beim gleichzeitigen Zugriff von hunderten Prüflingen nicht. Auf Seiten der Studierenden gab es hingegen schon Probleme. Doch auch hier haben wir bisher immer einen Workaround hinbekommen.

PD Dr. Ulrike Hanke

PD Dr. Ulrike Hanke, Privatdozentin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, ist seit 2014 als selbständige Trainerin und Beraterin in den Bereichen der Hochschuldidaktik und Bibliotheksdidaktik tätig. Sie nahm als Mentorin am Frauen-Mentoring mentUP+ teil und bildete gemeinsam mit Dr. Tamara Rachbauer ein Mentoring-Tandem. Foto: Ulrike Hanke

Werden Hochschulen und Universitäten in Zukunft überhaupt drum herumkommen, neben den klassischen Prüfungen auch digitale Prüfungen anzubieten?

Hanke: Schwer zu sagen. Corona hat auf jeden Fall in der Lehre ein Umdenken bewirkt. Viele hinterfragen nun kritischer, ob Prüfungen, bei denen lediglich nachschlagbares Wissen abgefragt wird, noch vertretbar und zeitgemäß sind, denn virtuell kann man so etwas nicht abfragen. In der Didaktik ist es seit geraumer Zeit Konsens, dass Open-Book-Klausuren dem späteren Arbeitsalltag viel näherkommen. Es ist ja völlig unrealistisch, dass ich später im Beruf nicht googlen, nachschlagen oder in die Bibliothek gehen darf, wenn ich ein Problem zu lösen habe. Das ist absurd, so arbeitet niemand. Prüfungen, bei denen lediglich Auswendiggelerntes reproduziert werden soll, waren didaktisch schon immer fragwürdig. Durch Corona wird dies jetzt auch denjenigen klarer, die das bisher nicht wahrhaben wollten. Aufgrund der vielen Vorteile, die das virtuelle Prüfen hat, gehe ich davon aus, dass es sich an den Hochschulen und Universitäten durchsetzen wird.

Frau Rachbauer, welche Erfahrungen haben Sie als Leiterin des DiTech-Teams im Hinblick auf die Akzeptanz innovativer Lehrkonzepte gemacht? Gibt es hier einen Generationenunterschied? Sind es eher die Jüngeren, die dem gegenüber aufgeschlossen sind? Oder ist es eine Typfrage?

Rachbauer: Anfangs dachte ich, dass die junge Generation aufgeschlossener und offener sei, aber es ist tatsächlich eine Typfrage. Diejenigen, die schon vor Corona offen für Neues waren und experimentiert haben, waren auch bei den Online-Workshops dabei, in denen wir vom DiTech unterschiedliche Methoden für die virtuelle Lehre präsentiert haben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Sprachenzentrum waren hier zum Beispiel sehr offen für Neues. Sie wollten unter anderem wissen, wie man eine Portfolio-Arbeit nutzen kann, damit die Studierenden in den asynchronen Phasen Podcasts oder Interviews aufnehmen, hochladen und sich gegenseitig Feedback geben können – und wie man es schafft, dass in den synchronen Online-Phasen sich alle einbringen und mitmachen.

Dr. Tamara Rachhuber

Dr. Tamara Rachbauer, Akademische Rätin am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik, unterstützt und berät als Leiterin des DiTech (Transferforum Didaktik-Technik) Lehrende und Studierende in allen Fragen rund um Online-Lehre und digitales Prüfen. Sie nahm als Mentee am Frauen-Mentoring mentUP+ teil und bildete gemeinsam mit PD Dr. Ulrike Hanke ein Mentoring-Tandem. Foto: Valentin Brandes

Stichwort Blended Learning. Welche Chancen bietet dieses Lernmodell im Vergleich zu klassischen Präsenzveranstaltungen?

Rachbauer: Ich biete seit Beginn meiner Lehrtätigkeit Blended-Learning-Kurse an. Ich habe noch nie etwas anderes gemacht. Mir war es von Anfang wichtig, dass sich die Studierenden außerhalb meiner Lehrveranstaltungen nicht nur zufällig über die Inhalte austauschen, sondern auch gezielt. Deswegen gestalte ich Kurse gerne mit ILIAS, so dass begleitend zu unseren Präsenzveranstaltungen Arbeitsaufträge onlinegestellt, kommentiert und zurückgeschickt werden können. Meiner Erfahrung nach kann ich durch diese Kombination ein Thema deutlich intensiver bearbeiten, weil die Studierenden schon vorbereitet in die Präsenzveranstaltungen gehen und sich untereinander austauschen. Außerdem deklariere ich die kleinen Arbeitsaufträge von vornherein als Workload, so dass die Studierenden am Semesterende eine Hausarbeit beziehungsweise eine Medienproduktion weniger haben.

Blended Learning:

Blended Learning, auch gemischtes oder hybrides Lernen genannt, bezeichnet eine Kombination aus Präsenzveranstaltungen und Online-Lehr-/Lernsettings. In Zeiten von Corona mussten die Präsenzveranstaltungen in Form von synchronen Online-Phasen (Videokonferenzen) durchgeführt werden. Eine typische Blended Learning-Veranstaltung beginnt mit einer Präsenzveranstaltung bzw. pandemiebedingt mit einer synchronen Online-Phase (Videokonferenz), auf die asynchrone Online-Phasen folgen. In den synchronen Online-Phasen (Videokonferenzen) erarbeiten die Lernenden gemeinsam mit den Lehrenden die Seminarinhalte, um einen gleichen Wissensstand zu erreichen. Für die asynchronen Online-Phasenerhalten die Lernenden beispielsweise Zugang zu einer Lernplattform, auf der sie die Skripten aus den Videokonferenzen und vertiefende Unterlagen, Links etc. in Kombination mit einer konkreten Aufgabenstellung vorfinden. Die Aufgaben bearbeiten die Studierenden dann in ihrem individuellen Tempo.

Lassen sich die Studierenden durch Blended Learning also relativ leicht motivieren, schon während des Semesters aktiv zu werden und zu lernen?

Rachbauer: Absolut. Ich nutze hier häufig die Methode des Inverted Classrooms, bei der die Studierenden sich die eigentlichen Lerninhalte in asynchronen Phasen zu Hause zum Beispiel in Form von Selbstlernvideos aneignen. Die synchronen Online-Phasen lassen sich dann nutzen, um Gelerntes anzuwenden, um zu diskutieren und offene Fragen zu klären. Anfangs waren diese Veranstaltungen, bei der ich den Inverted Classroom eingeführt habe, ganz schlecht besucht. Mehr als vier, fünf Studierende haben nicht teilgenommen. Alle anderen wollten klassische Lehrveranstaltungen. Bei der zweiten Durchführung waren es dann aber schon deutlich mehr. Die vier, fünf hatten anscheinend den anderen erzählt, wie viel ihnen dieser Inverted Classroom gebracht hat. Mittlerweile wird diese Methode von den meisten Studierenden sehr geschätzt.

Inverted Classroom:

Unter Inverted Classroom, im Schulkontext auch als Flipped Classroom bekannt, versteht man ein Lehr-/Lernsetting, in dem die traditionelle Präsenzlehre und das Selbststudium vertauscht werden. Beim einem typischen Inverted Classroom beginnt das Seminar mit den asynchronen Online-Phasen, auf die dann die Präsenzveranstaltung bzw. pandemiebedingt die synchronen Online-Phasen (Videokonferenzen) aufbauen. Für die asynchronen Online-Phasen erhalten die Studierenden Zugang zu einer Lernplattform, auf der sie aufgezeichnete Vorlesungen, Skripten, Blogs etc. erhalten, mit denen sie sich die Seminarinhalte selbstständig in ihrem individuellen Tempo erarbeiten können. In den synchronen Online-Phasen (Videokonferenzen) kann dann im Regelfall davon ausgegangen werden, dass die Studierenden alle auf dem gleichen Wissensstand sind. Hier findet eine vertiefte und erweiterte Auseinandersetzung mit den Seminarinhalten statt.

Im Wintersemester 2021/22 werden Präsenzveranstaltungen wahrscheinlich nur in einem kleinen Rahmen möglich sein. Was raten Sie den Lehrenden, die gerade ihre Lehrveranstaltungen für den Winter vorbereiten?

Hanke: Ich würde die Veranstaltungen so konzipieren, wie Tamara es beschrieben hat, und sie nach der Methode des Inverted Classrooms gestalten. Denn hier kann man relativ leicht zwischen realer und virtueller Präsenz hin- und herswitchen. Schwierig wird es, wenn ich eine Vorlesung in Präsenz geplant habe und dann feststelle, wieder mit Zoom arbeiten zu müssen. Das funktioniert nicht. Ich kann über Zoom keinen 90-minütigen Vortrag halten, da verliere ich zu viele. Wenn aber von vorneherein klar ist, dass Wissen vorwiegend im Selbststudium angeeignet wird und Präsenzveranstaltungen vor allem der Vertiefung und Diskussion dienen, geht das virtuell genau wie in Präsenz. Aktuell finde ich es durch Abstandsregeln und Maskenpflicht schwieriger, im Seminarraum zu lehren als im virtuellen Raum. Eine Gruppenarbeit ist mit Maske nicht so leicht durchzuführen wie unmaskiert in einer Breakout-Session.

Wird die klassische Vorlesung die Pandemie überleben?

Hanke: Nein, ich denke nicht. Denn die Studierenden schätzen das Blended Learning zunehmend. Was sie aktuell vermissen, sind vor allem das Campusleben, die sozialen Kontakte und der zwischenmenschliche Austausch, aber sicher nicht 90-minütige Hörsaal-Monologe.

Rachbauer: Ich stimme zu, dass im Uni-Alltag momentan vor allem das Zwischenmenschliche zu kurz kommt. Meiner Erfahrung nach lassen sich aber auch Vorlesungen gut auflockern. Wenn man sie als Video aufnimmt, Entspannungsübungen einstreut und zwischendurch klausurrelevante Fragen formuliert, die dann in einer Präsenzveranstaltung diskutiert und geklärt werden, kann auch die Vorlesung die Pandemie überleben. Einer Umfrage nach, die wir vor kurzem am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik durchgeführt haben, war die Mehrheit der befragten Studierenden mit diesem Format sehr zufrieden und wünscht es sich auch nach Corona. Von daher bin ich guter Dinge, dass die Vorlesung nicht zu den Corona-Opfern zählen wird.

Das Interview führte Dr. Benedikt Kuhnen

Promovieren und Mentoring an der Universität Passau:

Frauen-Mentoring-Programm mentUP+

Mit dem Frauen-Mentoring-Programm mentUP+ verfolgt die Universität Passau seit 2013 das Ziel, herausragende Frauen in Wissenschaft und Forschung auf ihrem Karriereweg zu unterstützen, einen Beitrag zur Entwicklung von High Potentials zu leisten und den Anteil an Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. Angesiedelt bei der Universitätsfrauenbeauftragten bzw. dem Referat Gleichstellung richtet es sich an herausragende Masterstudentinnen und Nachwuchswissenschaftlerinnen der Universität Passau, die eine Führungsposition anstreben. Kern des Programms sind sogenannte Mentoring-Tandems, die jeweils aus Mentee und Mentor*in bestehen. Ergänzt werden diese Mentoring-Tandems durch Seminare, Workshops, Coachings und Vernetzungstreffen. Weitere Infos finden Sie hier. 

Beim Anzeigen des Videos wird Ihre IP-Adresse an einen externen Server (Vimeo.com) gesendet.

Video anzeigen