Prof. Dr. Ulrike Müßig ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Passau. In den vergangenen fünf Jahren erforschte sie im Rahmen des breit angelegten Projektes ReConFort gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Australien, Belgien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Polen und Spanien europäische Verfassungsgeschichte und insbesondere die verfassungsbildende Rolle von Verfassungspraxis, -kommunikation und -interpretation. Die EU förderte das Projekt mit der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung auf europäischer Ebene, einem Advanced Grant des European Research Council (Grant-Agreement Nummer 339529, ReConFort). In Kürze erscheint ihre englischsprachige Monographie Reason and Fairness, Constituting Justice in Europe, from Medieval Canon Law to ECHR im Verlag Brill / Nijhoff.
Die momentane Situation in Großbritannien berührt mich ganz besonders: Einerseits als Rechtshistorikerin, denn keine andere Nation hat so früh das Prinzip vom Vorrang des Rechts vor der monarchischen Exekutive entwickelt und lebt in einem System ungeschriebener Verfassungskonventionen (also lebendiger Rechtsgeschichte). Zum anderen aufgrund meines persönlichen Werdegangs als Wissenschaftlerin: Ich habe in Cambridge ein Jahr meines Studiums verbracht und als Professorin oft mit dem UK Supreme Court zusammengearbeitet. Ganz besonders geprägt hat mich in Cambridge ein deutscher Professor. Dazu später mehr.
Fakten versus Interpretationen
Zurück zum Brexit: Im britischen Diskurs vermischen sich die Ebenen, Fakten und Interpretationen, und diese Vermischung blockiert: die Abstimmung über den Brexit-Deal, über Alternativen wie die Rücknahme des Austrittsverlangens oder über sonstige Änderungsanträge. Als der juristische Chef-Berater von Premierministerin Theresa May seine vernichtende Einschätzung zum vorgeschlagenen Brexit-Deal lieferte, begründete er dies mit dem unwahrscheinlichsten aller möglichen Szenarien – mit einem mala fide-Ansatz der Europäischen Union. Dieser Interpretationsansatz, dass die Europäische Union Großbritannien Böses will und den Deal entsprechend auslegen würde, war in der nachfolgenden Debatte gesetzt ‑ als Fakt. Fakten jedoch sind die Grenzen zwischen Schottland und England, zwischen der Republik Irland und Nordirland. Die wechselseitigen Einschätzungen von Verhandlungspartnern sind Interpretationen, die verfassungsbildende Kraft haben, je nachdem wie man sie argumentativ nutzt.
People's will versus Parlament
Ein weiteres Beispiel: Die Verabsolutierung des Volkswillens. Natürlich ist der people’s will die legitimatorische Rückbindung jeder Demokratie, nur der argumentative Einsatz gegen die Repräsentantinnen und Repräsentanten des Volkes trifft den britischen Parlamentarismus ins Mark. Das Gerichtsnarrativ der Souveränität von Westminster ist nicht nur schöne Tradition, wie etwa zur Parlamentseröffnung, wenn dem hohen Beamten mit dem „Black Rod“ zunächst die Tür vor der Nase zugeschlagen wird. Es geht um Vernunft und Fairness. Die englische Lesart der rule of law ist geprägt von den juristischen Interpretationen gegen den Stuartabsolutismus, die in der Bill of Rights 1689 nachlesbar sind. Über das Gemeinwohl entscheidet die Legislative, vorbehaltlich der Prärogativrechte der Exekutive. Der Supreme Court des Vereinigten Königreiches hat im Miller Case 2017 klar gemacht, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU nicht zu den Vorrechten der Regierung gehört.
Kein Platz für Beleidigungen aus dem Tierreich
Die Verantwortung der Legislative für das Gemeinwohl beruht auf der (juristischen) Professionalität der von Volksvertretern erwarteten Vernünftigkeit (artificial reason) im Unterschied zur Jedermanns-Vernunft (human reason) des gemeinen Volkes. Artificial meint hier eine von menschlichen Schwächen für parteipolitische Karrieren losgelöste Vernunft, die auf professionellem Wissen beruht. Eine Professionalität, die sich an Respekt vor dem oder der anderen, auch in der Widerrede orientiert. „My right honourable friend“ – mein Ehrenwerter, meine Ehrenwerte, ist nicht nur die übliche Anrede des gegnerischen Anwalts, sondern nach der Gerichtslogik der britischen Parlamentsgeschichte – mit den beiden roten Linien im Sitzungssaal, dem zeremoniellen Streitkolben (mace) – auch Standard in Parlamentsdebatten. Schon die Anrede in der dritten Person kann den Diskurs versachlichen. Beleidigungen aus dem Tierreich haben demnach keinen Platz, zumal das offizielle Programm der Opposition Loyalität ist: „Her Majesty’s loyal opposition“.
Die Folge: Rechthaberei, Streit, (rhetorischer) Krieg
In seinem Showdown kommt der politische Diskurs in Großbritannien rund um den Brexit einem Glaubenskrieg gleich. Remainers und Brexiteers beharren auf ihrer Interpretationshoheit. Das ist das, was Sir Edward Cooke in den verfassungsbildenden Präjudizien des 17. Jahrhunderts mit Allerweltsvernunft (human reason) meinte. Rechthaberei, Streit und letztlich (rhetorischer) Krieg sind die Folge. Demgegenüber steht der regelgeschulte sokratisch fragende Urteilsstil englischer Obergerichte (artificial reason). Die Künstlichkeit und Kunst (!) besteht in der Annahme, dass alle Standpunkte gleich gültig sind, sie sich nur in den unterschiedlichen Konsequenzen unterscheiden.
Rechthaberei entsteht, wenn Fakten zu Interpretationen werden und Interpretationen zu Fakten. Diese Tendenz beobachte ich nicht nur in Großbritannien. Auch auf europäischer Ebene, zuletzt etwa in der hitzigen Debatte um die Urheberrechtsreform, zeigten sich beide Seiten verhärtet. Proteste gegen die Reform wurden von einigen Parlamentariern abgekanzelt. Eine solche Haltung ist demokratiegefährdend, das belegen unsere Forschungen. Verfassungen, so wenig komfortabel dies auch für uns Juristinnen und Juristen sein mag, bleiben leblos, wenn dieser Text nicht kommuniziert wird. Die Art und Weise, wie dies geschieht, sagt buchstäblich etwas darüber aus, in welcher Verfassung sich das jeweilige Rechtssystem befindet.
Fairness ist in diesem Falle keine moralische Kategorie, sondern eine ganz spezifisch europäische Idee von Gerechtigkeit. Es gilt, diese Form von Fairness anhand vernünftiger juristischer Argumente nachvollziehbar zu machen.
Prof. Dr. Ulrike Müßig, Rechtshistorikerin an der Universität Passau
Als Studentin in Cambridge lernte ich bei Professor Kurt Lipstein, der als jüdischer Assessor 1933 nach England floh, wo er sich als Fakultätsassistenz eine neue Existenz aufbaute. Er erzählte uns, wie er während des Blitzkriegs auf dem sehr spitzen Dach der Squire Law Library ausharren musste. Drei Eimer Wasser gegen deutsche Bomben!
Dieser Professor empfing uns junge Deutsche in den 90er Jahren, ohne jeglichen Hass, ohne jeglichen Groll in den Augen. Ihn zeichnete eine zutiefst demokratische Haltung aus. Sie basierte auf Werten, die britisch und zugleich europäisch sind: auf Reason und Fairness, auf eine feine Unterscheidung zwischen Fakten und Interpretationen. Er zeigte uns, dass sich Fairness mit Vernunft erreichen lässt. Fairness ist in diesem Falle keine moralische Kategorie, sondern eine ganz spezifisch europäische Idee von Gerechtigkeit. Es gilt, diese Form von Fairness anhand vernünftiger juristischer Argumente nachvollziehbar zu machen.
Diese Eigenschaft zeichnet europäische – und ja, dazu zählt auch die britische – Verfassungstraditionen aus. Großbritannien kann sich darauf besinnen.