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Alternativlos-Rhetorik vergiftet öffentliche Debatten

Die Coronakrise zeigt erneut, wie schwer es in demokratischen Gesellschaften geworden ist, über komplexe Fragen vernünftig zu diskutieren. Besonders problematisch ist die zunehmende Moralisierung. Von Prof. Dr. Christian Thies

Die Corona-Pandemie betrifft uns alle – in einer Weise, die wir bisher nicht kannten. In der neuen Reihe „Passauer Universitäts-Perspektiven“ beziehen Forscherinnen und Forscher der Universität Passau in losen Abständen aus ihrer Disziplin heraus Position zu aktuellen Entwicklungen. 

Wer reich und gesund ist, hat viel zu verlieren. Moderne Krisen spielen sich heutzutage auf einem höheren Wohlstandsniveau ab. Es grassiert die Befürchtung, dass es gleich mehrere Etagen tiefer geht. Ängste vagabundieren.

Insofern sind unsere modernen Gesellschaften mit all ihrer Komplexität sogar verletzlicher geworden. Es entwickelt sich eine Variante des aus anderen Zusammenhängen bekannten Sicherheitsparadoxons: Die Sicherheitsvorkehrungen werden immer weiter erhöht, aber weil die Verlustängste so hoch sind, wächst auch das subjektive Gefühl der Bedrohung, vor allem in Krisensituationen. Apokalyptische Szenarien beherrschen unsere Aufmerksamkeits­ökonomie und es kursieren Verschwörungstheorien.

Prof. Dr. Christian Thies

Prof. Dr. Christian Thies

forscht zu Praktischer Philosophie

Was kann klassische Philosophie zur digitalen Gesellschaft beitragen?

Was kann klassische Philosophie zur digitalen Gesellschaft beitragen?

Prof. Dr. Christian Thies ist seit 2009 Inhaber der Lehrprofessur für Philosophie an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der praktischen Philosophie und historisch gesehen insbesondere der klassischen deutschen Philosophie.

Wie gehen liberal-demokratische Gesellschaften damit um? Die europäischen Krisen der vergangenen zehn Jahre, die Euro-Finanzkrise 2010, die Flüchtlingskrise 2015 und die aktuelle Coronakrise bieten dafür genug Anschauungsmaterial. Meine These ist, dass die öffentlichen Debatten in allen drei Fällen unzureichend waren. Wir müssen lernen, in solch angespannten Situationen besser miteinander zu reden. Philosophie kann dabei helfen. Dazu später mehr.

Zunächst fällt auf, dass in Deutschland in allen drei Krisen große Einigkeit herrschte. Am deutlichsten war dies bei der Flüchtlingskrise. Zu dem, was die politisch Verantwortlichen im Herbst 2015 machten, gab es in den Parlamenten fast überhaupt keine Gegenstimmen.

Dieser öffentliche Konsens über die Alternativlosigkeit der Maßnahmen bewirkte den Aufstieg eben jener Alternative für Deutschland (AfD), zunächst als neoliberale Partei gegen die Euro-Rettungsmaßnahmen, dann (im politischen Spektrum nach rechts verschoben) als populistische Partei gegen die Flüchtlingspolitik. Welche Folgen die Coronakrise für das Parteienspektrum haben wird, ist noch unklar.

Zusammenspiel dreier Instanzen

Zu dieser diskursiven Einigkeit kam es jeweils, obwohl sehr unterschiedliche Akteure mitwirkten. Nach meiner Beobachtung gab es, vor allem in der Coronakrise, ein nicht intendiertes Zusammenspiel von drei Instanzen: Exekutive, Medien und Experten.

In Krisen tritt immer die Exekutive in den Vordergrund. Während der Eurokrise wurden die getroffenen ökonomischen Entscheidungen demokratisch nur sehr unzureichend legitimiert; auch deshalb wurde das Schlagwort von der Postdemokratie populär. Während der Flüchtlingskrise wurden wichtige Entscheidungen offensichtlich innerhalb weniger Stunden von wenigen Personen getroffen. Während der Coronakrise gab es in der zweiten März-Hälfte fast überhaupt keine kritischen Gegenstimmen.

Dann die Medien, die manchmal als „vierte Gewalt“ bezeichnet werden. Medien wirken über Bilder. In der Flüchtlingskrise war es das Bild des toten Jungen am Strand einer griechischen Insel. Ein weiterer Beleg sind gerade die Bilder des getöteten George Floyd. In der Coronakrise waren es die Bilder aus lombardischen Kliniken: „Wir müssen verhindern, dass wir bei uns solche Bilder wie in Bergamo zu sehen bekommen.“ Ich weiß nicht, wie oft ich Mitte März 2020 diesen Satz gehört habe. Aber Argumente, die sich auf Bilder stützen – und seien diese auch noch so authentisch –, sind schwach. Es besteht die Gefahr, dass wir zu einer Stimmungsdemokratie werden.

Die Stimmungsdemokratie begünstigt den Aufstieg des Populismus. Dabei handelt es sich um kein neues Phänomen: Die Macht der Rhetorik spielte in der attischen Demokratie eine große Rolle. Am Sonntag wurde Jesus beim Einzug in Jerusalem bejubelt, am folgenden Freitag hingerichtet. In Rom musste immer für Brot und für Spiele gesorgt werden; den Pferderennen in Konstantinopel entspricht unsere Fußball-Bundesliga. Die Massenmedien des 20. Jahrhunderts und die multimedialen Netze des 21. Jahrhunderts beschleunigen und intensivieren diese Entwicklungen.

Zahlen – so verführerisch wie Bilder

Schließlich die Experten. Sie argumentieren nicht mit Bildern, sondern mit Zahlen. Wenn wir uns politisch nur noch an Zahlen orientieren, sind wir auf dem Weg in eine Technokratie, in der die von Experten erkannten Sachzwänge herrschen. Technokratische Entwürfe lassen sich ebenfalls weit in die Geschichte zurückverfolgen, mindestens bis zu den technischen Utopien der Renaissance.

Zahlen sind ebenso verführerisch wie Bilder. Zahlen scheinen objektiv und unanfechtbar zu sein, sind aber auch Konstrukte. Die Zahl der Corona-Infizierten hängt von den Testkapazitäten ab; wer nicht testet, hat auch keine Infizierten. Welche Zahl gilt? Die Toten, die an oder mit Corona gestorben sind? Die Reproduktionszahl, die Zahl der Neu-Infektionen, die der aktiven Fälle oder die freie Zahl der Intensivbetten? All diese Zahlen sind in ein Verhältnis zueinander zu setzen und mit dem Blick aufs Ganze zu interpretieren. An der Deutung der Zahlen kommt man nicht vorbei. Darüber hinaus könnten andere Wissenschaften noch ganz andere Zahlen nennen. Schließlich darf man nicht vergessen, dass man nicht alles in Zahlen fassen kann; die messbare Welt ist nur ein Teil des Ganzen.

In einer Demokratie müssen Bilder und Zahlen verfügbar sein, die Stimmungspolitiker und die Experten müssen sich in den öffentlichen Medien äußern dürfen, nicht nur aus Gründen der Kommunikationsfreiheit, sondern auch nach Maßgabe einer ausgewogenen und umsichtigen Berichterstattung. Aber es darf keine Zweifel geben, dass die politischen Entscheidungen an einem anderen Ort fallen müssen, nämlich primär im demokratisch legitimierten Parlament.

Gerade dieses tritt aber, so meine These, in allen drei großen Krisen des vergangenen Jahrzehnts in den Hintergrund. Dazu tragen aus meiner Sicht alle drei Instanzen bei: Die Exekutive überspringt die Legislative. Die Stimmungsdemokratie erzeugt kollektive Gefühle, die durch die multimedialen Netze gesteigert werden. Aus der Technokratie folgt ein Handeln nach Sachzwängen. Dazu passt das Wort „alternativlos“, das wir in allen drei Krisen oft gehört haben. In der Coronakrise klangen Vertreterinnen und Vertreter der Exekutive bisweilen so, als müsse die Regierung über die Bevölkerung wachen wie ein alter Schuldirektor über seine pubertierenden Schülerinnen und Schüler.

Kurzschlüsse durch Moralisieren

Ich habe noch einen weiteren Kritikpunkt, der sowohl die parlamentarischen Debatten wie die medial-öffentlichen Diskussionen betrifft: Seit vielen Jahren, so meine These, gibt es in Deutschland eine ambivalente Entwicklung. Auf der einen Seite wird die Bindung der Politik an normative Prinzipien zu Recht stärker betont als früher und anderswo; niemand plädiert mehr für einen Machiavellismus, nicht einmal in der Außenpolitik. Auf der anderen Seite führt das zu einer Tabuisierung von Themen, zu einer Sakralisierung (Heiligsprechung) von Werten und zu einer Verabsolutierung von Entscheidungen. Über manches wird nicht mehr offen geredet, obwohl es gar keine Verbote gibt; bestimmte Werte werden als heilig angesehen, obwohl dies niemand verfügen kann; einige politische Entscheidungen gelten als unwiderrufbar.

Besonders problematisch ist die zunehmende Moralisierung. Es mag verwunderlich sein, dass ich als Moralphilosoph die Moralisierung ablehne, aber vielleicht kann der Moralphilosoph auch besser den Unterschied zwischen moralischen Argumenten und moralisierenden Verabsolutierungen erkennen. Die Moralisierung ist, so meine ich, eine der Ursachen der „Vergiftung“ der öffentlichen Debatten.

Moralisches Argumentieren und Moralisieren unterscheiden sich durch zwei Aspekte. Das Moralisieren leitet aus sakralisierten normativen Prinzipien wie der Menschenwürde direkt Handlungsanweisungen ab. Moralische, oder besser: normative Diskurse sind aber vielschichtig. In der Philosophie wird heute oft zwischen der drei Ebenen der Diskussion unterschieden: der idealen, der nicht-idealen und der politisch-strategischen. Die Moralisierer akzeptieren solche Abstufungen nicht; aus den Prinzipien soll direkt etwas folgen. Wer moralisiert, neigt deshalb zu Kurzschlüssen.

Argumente gegen Menschen

Der zweite Unterschied ist, dass sich moralische Argumente gegen andere Argumente richten. Gegenstand der kritischen Prüfung sind Handlungen, Normen oder Institutionen, vielleicht noch (in einer klassischen Tugendethik) Charaktereigenschaften, nicht jedoch Menschen. Die Rede von einem guten oder schlechten Menschen ist der philosophischen Ethik fremd. Anders beim Moralisieren: Es richtet sich direkt gegen andere Menschen und schreibt diesen einen schlechten Charakter zu; die Argumente sind ad personam. Das fällt deshalb leicht, weil unterstellt wird, der oder die Andere würde gegen die mehr oder weniger heiliggesprochenen Werte verstoßen.

Es muss sich nicht einmal um Werte wie Menschenwürde oder Leben handeln. Auch relativ konkrete politische Ziele werden verabsolutiert: der europäische Einigungsprozess, die Aufnahme möglichst aller Flüchtlinge („keine Obergrenze“) und lebensrettende Maßnahmen angesichts des Corona-Virus. In manchen politischen Diskussionen werden sogar bestimmte Vergleiche verboten: Man darf Nazis nicht mit Bolschewiki, Israel nicht mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime und COVID-19 nicht mit der Influenza zusammenbringen.

In allen drei großen Krisen des letzten Jahrzehnts war man schnell bereit, politische Gegner der europäischen Einigung als reaktionäre Nationalisten, intellektuelle Gegner von Merkels Flüchtlingspolitik als Rechtsradikale und die Gegner der allgemeinen Corona-Politik als niederträchtig zu bezeichnen und damit aus den Diskursen auszuschließen.

Wohlgemerkt: Es geht mir nicht darum, die genannten Positionen argumentativ zu stützen. Aber in einer pluralistischen Gesellschaft brauchen wir offene Diskussionen, in denen das Prinzip der Toleranz einen hohen Stellenwert hat. Toleranz heißt aber, dass andere Meinungen als zulässig gelten, obwohl man ihnen gerade nicht zustimmt. Wenn aber ständig moralisiert wird, gelten diejenigen, die andere Auffassungen vertreten, als schlechte Menschen. Dann sind Shitstorms und Morddrohungen naheliegend.

Wie wir anders miteinander ins Gespräch kommen können, zeigt der griechische Philosoph Sokrates: Er führte auf dem Marktplatz kontroverse Gespräche mit mehr oder weniger prominenten Freunden und Zeitgenossen, die extrem unterschiedliche Auffassungen hatten. Ironisch, ja provokativ befragte er diese zu ihren Ansichten zu wichtigen Lebensfragen und suchte nach den besten Gründen für sein eigenes Handeln.

Das scheint mir ein gutes Vorbild für die Rolle der Philosophierenden in der heutigen politischen Öffentlichkeit zu sein: als kritische Instanz, als spitzer Stachel oder nervendes Insekt.  

Haben Sie Fragen oder Anregungen zu dem Beitrag? Sind Sie Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler der Universität Passau und möchten sich aus Ihrer Disziplin heraus äußern? Schreiben Sie uns: perspektiven@uni-passau.de

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