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Müssen wir neu über Bildung reden, Herr Thies?

Schulen und Hochschulen dürfen nicht zu digitalen Einrichtungen werden, an die man seinen Computer anschließt, sagt Christian Thies, Professor für Philosophie.

In der Corona-Krise konnte man viel über den Zustand unserer Gesellschaft lernen. Das gilt auch für unsere Bildungseinrichtungen, also die Schulen und Hochschulen. Wenn man den medialen Diskussionen glauben mag, dann wurde vor allem Deutschlands Rückstand bei der Digitalisierung deutlich. Das Home-Schooling und auch das universitäre Online-Semester hätten nicht optimal funktioniert. Jetzt solle man die Corona-Krise nutzen, um in Sachen Digitalisierung endlich voranzukommen. Diese Auffassung halte ich für falsch, auf lange Sicht sogar für gefährlich.

Niemand hat etwas gegen eine funktionierende technische Ausstattung. Aber Computer und digitale Netzwerke sind bestenfalls Mittel für andere Zwecke. Leider haben alle Mittel, die großflächig eingesetzt werden, die Tendenz, selbst zu einem Zweck zu werden. Ob digitale Lehre ein gutes Mittel ist, um Wissen zu erwerben, mögen andere beurteilen. Werden dadurch nicht eher die sozial bedingten Unterschiede größer? Wie dem auch sei, Wissenserwerb ist nicht alles. Unsere Schulen und Hochschulen haben noch mindestens zwei andere Aufgaben.

Zum einen sind sie unverzichtbar für die soziale Integration in komplexer werdenden Gesellschaften. In Bildungseinrichtungen entstehen Freundschaften, wachsen Beziehungsnetze und lernen Menschen unterschiedlicher Generationen den respektvollen Umgang miteinander. Das ist digital nur ansatzweise möglich. Virtuelle Kommunikationsgruppen eignen sich zwar für strategische Absprachen, aber nicht für die Bildung von Gemeinschaften. Das erforderliche Vertrauen wächst nur durch direkte persönliche Kontakte zwischen Menschen, nicht zwischen Zoom-Kacheln. Vorurteile gegenüber Fremden werden vor allem durch persönliche Begegnungen abgeschwächt.

Zum anderen tragen unsere Bildungseinrichtungen dazu bei, dass sich junge Menschen zu reifen Persönlichkeiten entwickeln. Auch das geschieht sicher nicht dadurch, dass Schüler, Schülerinnen und Studierende allein vor ihren Bildschirmen hocken. Eine Ich-Identität entsteht durch die reflexive Aneignung und die kohärente Integration der sozialen Rollen, die man spielen muss und will. Das ist aber nicht möglich, wenn privates und öffentliches, familiäres und berufliches, soziales und politisches Leben zu einer undifferenzierten Home-Office-Existenz verschmelzen.

Schulen und Hochschulen müssen deshalb Erfahrungs- und Lebensräume sein, in denen öffentliches Handeln gelernt wird. Nur dann ist auch ein sozial verantwortlicher Umgang mit Wissen möglich – und Universitäten dürfen nicht zu digitalen Einrichtungen werden, an die man seinen Computer anschließt."

Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 01/2020 des Campus Passau Magazin

Prof. Dr. Christian Thies

Prof. Dr. Christian Thies

forscht zu Praktischer Philosophie

Was kann klassische Philosophie zur digitalen Gesellschaft beitragen?

Was kann klassische Philosophie zur digitalen Gesellschaft beitragen?

Prof. Dr. Christian Thies ist seit 2009 Inhaber der Lehrprofessur für Philosophie an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der praktischen Philosophie und historisch gesehen insbesondere der klassischen deutschen Philosophie.

Haben Sie Fragen zu dem Thema? Schreiben Sie uns: frag-die-wissenschaft@uni-passau.de - Wir leiten Ihre Fragen an Herrn Professor Thies weiter und veröffentlichen an dieser Stelle zeitnah seine Antworten.

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