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Frau Henkel, wie verändert das Virus die Gesellschaft?

Ungleichheiten werden stärker, diagnostiziert die Soziologin Prof. Dr. Anna Henkel. Wichtig ist es daher, diese auszugleichen und die Integrität sozialer Institutionen zu erhalten und zu stärken.

Zunächst ist 'das Virus' genauso wie 'das Klima' erst einmal etwas, das einfach da ist – das Gesellschaft aber nicht direkt verändert. Worauf die Gesellschaft reagiert und was Gesellschaft entsprechend verändert, ist wesentlich dadurch bedingt, was die Gesellschaft von dem Virus erwartet. Hier liegt ein zentrales Problem dieses Corona-Virus: Da es neu ist, gibt es kaum gesicherte Erwartungen darüber, wie, wann, auf wen, wie lange etc. es wirkt. Die Gesellschaft muss also nicht nur auf ihre bereits generierten 'Virus-Erwartungen' reagieren, sondern vor allem auf ihre eigene Unsicherheit darüber, was dieses Virus ist.

Kurzfristig ist deshalb eine wichtige Wirkung des Virus auf die Gesellschaft, aus der neuen Situation sozusagen 'Sinn zu machen'. Hier ist wesentlich die Wissenschaft gefordert. Entsprechend hat Forschung zu Corona über alle Disziplinen hinweg stattgefunden und war öffentlich und medial präsent. Gleichzeitig: Wenn Menschen plötzlich sterben und man dagegen kaum etwas tun kann, wird das ein Problem auch der Politik, der es schließlich unter anderem darum geht, ihre Bevölkerung zu schützen. Damit entsteht mittelfristig die Konstellation, dass die Gesellschaft nicht nur auf ihre Virus-Erwartungen und ihre eigene Unsicherheit, sondern auch auf ihre eigenen Virus-Schutzmaßnahmen reagieren muss. Kontaktbeschränkungen, Masken, Ausgehverbote – all dies hat ja Wirkungen sowohl auf die Menschen und die Art und Weise, wie sie sich begegnen, als auch auf Wirtschaftsleistung, Steueraufkommen, Legitimität von Institutionen etc.

Für die langfristigen Wirkungen des Virus auf die Gesellschaft kommt es deshalb wesentlich darauf an, wie lange das Virus als eine relativ unbeherrschbare Außenweltveränderung bestehen bleibt. Schon die ersten Tage des Lockdown haben soziale Ungleichheit national und global sehr deutlich gemacht. Wenn medizinische Versorgung ausreichend Kapazitäten für unerwartete Fälle hat und diese der gesamten Bevölkerung zur Verfügung stehen, wenn Einkommensverluste sich in Grenzen halten oder zumindest teilweise ausgeglichen werden, wenn Vermögen oder soziale Sicherung soweit vorhanden ist, dass auch einige Wochen Lockdown für niemanden existentielle Not bedeutet – dann kommt eine Gesellschaft ganz gut durch die Krise. Aber selbst wenn all dies gegeben ist, bleiben Unterschiede etwa im verfügbaren Wohnraum oder den Kapazitäten für Home-Schooling und haben erheblichen Einfluss auf die physischen und psychischen Belastungen durch einen Lockdown sowie die langfristigen Folgen. Das Virus trifft also schon nicht alle gleich – und zugleich verschärfen sich im Zusammenhang mit dem Virus vorhandene Ungleichheiten, denn Ersparnisse werden zwar überall verzehrt, die Möglichkeiten zur Akkumulation von Gewinnen sind jedoch sehr ungleich verteilt. Viele Wirkungen werden sich zudem erst mit Zeitverzögerung zeigen, die Folgen des Unterrichtsausfalls für Bildungsbiografien etwa oder die Effekte von geringeren Einkommen auf Konsum- und generell Alltagsgewohnheiten.

Je länger solche Einschränkungen anhalten, desto größer werden diese Effekte. Ich denke, es ist – was insoweit naheliegt – ganz elementar, dass die Politik weiter versucht, diese Effekte auszugleichen, dass öffentliche Gesundheitsversorgung breit aufgestellt bleibt und Unterstützungsgelder breit gestreut werden. Genauso wichtig aber ist es, die Integrität sozialer Institutionen zu erhalten und zu stärken. Unabhängigkeit von Wissenschaft, Justiz und Medien sind die Voraussetzung dafür, dass auch und gerade in Krisensituationen Entscheidungen sachlichen Gesichtspunkten folgen. Dies setzt finanzielle und institutionelle Unabhängigkeit der involvierten Organisationen und Personen voraus, zudem einen entsprechenden Ethos. Es müsste neben der direkten Krisenbewältigung auch darum gehen, wie solche Bedingungen gestärkt und langfristig gesichert werden. Entscheidend dafür sind die Art und Weise, wie die Zurechnung von Verantwortung verteilt wird und welche Kriterien bei der Einrichtung von Strukturen neben oder jenseits der Effizienz angelegt werden."

Prof. Dr. Anna Henkel, Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau

Prof. Dr. Anna Henkel

forscht zu Materialität, Nachhaltigkeit und Digitalisierung

Wie verändern sich Verantwortungsverhältnisse in der modernen Gesellschaft?

Wie verändern sich Verantwortungsverhältnisse in der modernen Gesellschaft?

Prof. Dr. Anna Henkel ist seit 2019 Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau.  Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie, der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung sowie im Bereich Digitalisierung. Seit August 2021 ist Henkel stellvertretendes Mitglied im "Ausschuss für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit" des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Haben Sie Fragen zu dem Thema? Schreiben Sie uns: frag-die-wissenschaft@uni-passau.de - Wir leiten Ihre Fragen an Frau Professorin Henkel weiter und veröffentlichen an dieser Stelle zeitnah ihre Antworten.

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