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12.07.2023

Die Pandemie, die die Gemäßigten stärkte

Wie beeinflusste die Spanische Grippe das Wahlverhalten in der Weimarer Republik? In unserer Studie zeigen wir mit historischen Daten, dass nicht die extremen Parteien profitierten, sondern insbesondere die SPD. Von Ökonomen aus Passau, Berlin, Köln und Rom

Militär-Notfallkrankenhaus während der Spanischen Grippe in Kansas, 1918 oder 1919. Quelle: National Museum of Health and Medicine, Armed Forces Institute of Pathology, Washington, D.C., United States - Pandemic Influenza: The Inside Story. Nicholls H, PLoS Biology Vol. 4/2/2006, e50CC BY 2.5

Krisen, Krieg und dann noch eine Pandemie. Die Rede ist nicht von heute, sondern von einer Zeit vor mehr als 100 Jahren, als eine noch schlimmere Krankheit die Welt überzog - die Spanische Grippe. Man könnte meinen, dass diese eine von vielen Faktoren war, die zum Aufstieg der Nationalsozialisten beigetragen hat. Doch dem ist nicht so. Wir verbinden moderne mikroökonomischer Methoden mit historischen Daten und zeigen, dass das Gegenteil der Fall war.

In unserem Working Paper „The Political Effects of the 1918 Influenza Pandemic in Weimar Germany“ analysieren wir, wie sich die Spanische Grippe auf das Wahlverhalten in der Weimarer Republik ausgewirkt hat. Wir haben dazu historische Sterbedaten ausgewertet und kombinieren diese mit Daten zu Wahlergebnissen aus allen deutschen Wahlkreisen und mehr als 200 Städten im Zeitraum von 1893 bis 1933.

Unsere Erkenntnisse im Überblick:

  • In Regionen, die von der Spanischen Grippe besonders betroffen waren, verbuchte der linksgerichtete Parteienblock einen Zuwachs von 8,1 Prozent im Vergleich zum Ergebnis bei den Wahlen vor Ausbruch der Pandemie. 
  • Im linksgerichteten Lager profitierte vor allem die SPD – und zwar nicht nur kurzfristig. Der Effekt blieb im Beobachtungszeitraum bis 1933 stabil. Extreme Parteien stärkte die Pandemie nicht.
  • In einer Reihe von Tests schließen wir aus, dass der Effekt der Spanischen Grippe mit dem Effekt anderer möglicher Ursachen wie Armut und Ungleichheit oder kriegsbedingte Entwicklungen verwechselt wird. 

Die Grafik zeigt das Wahlverhalten bezogen auf den linksgerichteten Parteienblock in Wahlkreisen, die besonders betroffen von der Spanischen Grippe waren. Vor Ausbruch der Krankheit folgten diese Wahlkreise noch dem gleichen Trend in den Wählerstimmen für das linke Lager wie weniger betroffene Wahlkreise (Linie 0). Erst mit der ersten Wahl nach der Pandemie im Jahr 1919 zeigt sich eine deutliche Abweichung, die bis 1933 relativ stabil bleibt.

Situation im Deutschen Reich

1918 war der erste Weltkrieg noch nicht zu Ende, als sich eine rätselhafte Krankheit ausbreitete. Sie begann mit Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen, der Tod kam wenige Tage später. Die Betroffenen erstickten, die Haut färbte sich infolge des Sauerstoffmangels dunkelblau. Die USA, wo die Krankheit erstmals ausbrach, schlossen Theater und Museen, manche US-Städte reagierten mit Lockdowns.

Anders die Situation im Deutschen Reich, wo die zweite, tödlichere Welle des Virus mit der Hunderttageoffensive zusammentraf, der letzten Kriegsphase an der Westfront. Die Politik ergriff keine Maßnahmen aus Sorge um die Moral der Bevölkerung. Es herrschte Zensur, die Presse berichtete zunächst gar nicht, in der zweiten Welle im Oktober und November 1918 minimal über den Ausbruch. Der Krieg und die Friedensverhandlungen dominierten die Nachrichten.

Doch für die Bevölkerung war das Thema präsent. Schätzungen zufolge starben an der Spanischen Grippe in Deutschland in wenigen Monaten mehr als 400 000 Menschen – vergleichbar mit Todesfällen durch den Ersten Weltkrieg in einem ganzen Kriegsjahr. Die Pandemie bestimmte also den Alltag sehr wohl, nicht nur wegen der vielen Todesfälle, sondern etwa auch, weil viele Menschen krankheitsbedingt nicht arbeiten konnten und es dadurch zu Verzögerungen in Produktionsabläufen kam.

Ungewöhnlicher Linksruck

In unserer Studie arbeiten wir mit historischen Sterbedaten. Unserem Ko-Autor Christoph König, der sich in einer anderen Studie mit dem politischen Einfluss der Veteranen des Ersten Weltkriegs befasst hat, fiel auf, dass in den Regionen, die ab 1919 einen besonders starken Linksruck verzeichneten, die Übersterblichkeit im Jahr 1918, dem Jahr der Spanischen Grippe, besonders hoch war. Das nahmen wir zum Anlass, um zu untersuchen, ob es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang zwischen der Spanischen Grippe und dem Linksruck gab.

Wie identifiziert man Übersterblichkeit durch die Spanische Grippe ohne Daten zu Todesursachen?

Auf Ebene der Wahlkreise gibt es zwar Sterbedaten, aber keine Angaben zu den Todesursachen. Deshalb versuchen wir mit ökonometrischen Methoden, die Übersterblichkeit der Spanischen Grippe vorherzusagen. In einem ersten Schritt verwenden wir dazu Sterbedaten der Jahre 1904 bis 1913 und berechnen auf dieser Basis wahlkreisspezifische Vorhersagen für die Sterblichkeit in den Jahren 1914 bis 1918. In all diesen Jahren finden wir eine höhere Sterblichkeit als ohne Krieg erwartbar gewesen wäre, wobei die Übersterblichkeit im Jahr 1918 aufgrund der Spanischen Grippe noch höher ist als in den anderen Kriegsjahren. In einem zweiten Schritt verwenden wir die Übersterblichkeit der Kriegsjahre 1914 bis 1917, um vorherzusagen, wie hoch die Übersterblichkeit 1918 ohne die Spanische Grippe gewesen wäre. Der Unterschied zwischen dem tatsächlichen Wert im Jahr 1918 und unserer Vorhersage könnte, wenn unsere Methode wie gewünscht funktioniert, die Übersterblichkeit durch die Spanische Grippe sein. Ob unsere Methode funktioniert, testen wir anschließend auf Regierungsbezirksebene, denn hier haben wir Daten zu den Todesursachen. Und in der Tat: Es klappt. Wir sehen, dass unser Maß für Übersterblichkeit durch die Spanische Grippe mit jedem ärztlich identifizierten Influenzatoten um genau eins zunimmt. Auf Kriegstote hingegen reagiert unser Maß nicht. Wir können also die Toten der Spanischen Grippe in den Wahlkreisen identifizieren, obwohl wir auf dieser Ebene eigentlich keine Daten dazu haben.

Hat die Spanische Grippe den Linksruck verursacht?

Damit haben wir aber noch nicht den Beweis erbracht, dass die Spanische Grippe hinter dem Linksruck steckt. Um diesen Beweis zu führen, vergleichen wir nun die Entwicklung des Wahlverhaltens in besonders betroffenen Regionen, mit jenen, in denen es weniger Grippetote gab, im Zeitraum von 1893 bis 1939 in einem dynamischen Differenz-in-Differenzenmodell. Dieses Modell erlaubt uns, konstante regionale Unterschiede sowie generelle Zeiteffekte, die für alle Regionen galten, herauszurechnen.

Nun gab es natürlich von der letzten Reichstagswahl vor Ausbruch der Spanischen Grippe im Deutschen Kaiserreich 1912 bis zur ersten Wahl danach im Jahr 1919 in der Weimarer Republik gravierende Änderungen im politischen System. Dazu zählten etwa die Umstellung von Mehrheits- auf Verhältniswahlrecht, die Herabsetzung des Wahlalters, Veränderungen in der Parteienlandschaft und die Einführung des Frauenwahlrechts. Damit wir die Ergebnisse dennoch vergleichen können, arbeiten wir mit den Wahlkreisgrenzen aus dem Kaiserreich, fassen die Parteien zu drei größeren Gruppen zusammen, den linksgerichteten Block, den der Mitte und den rechtsgerichteten, und kontrollieren für wahlkreisspezifische Veränderungen der Wahlberechtigten.

Die Ergebnisse zeigen, dass Wahlkreise mit höherer und Wahlkreise mit niedrigerer Influenzasterblichkeit im kompletten Zeitraum vor der Pandemie, also von 1893 bis 1912, der letzten Wahl vor der Spanischen Grippe, einem sehr ähnlichen Trend folgen. Erst nach der Spanischen Grippe beobachten wir in den Wahlkreisen mit höherer Influenzasterblichkeit einen deutlichen Anstieg der Stimmenanteile für den linksgerichteten Block im Vergleich zu Wahlkreisen mit niedrigerer Influenzasterblichkeit. Erhöht sich die Zahl der Influenzatoten um 2 pro 1000 Einwohner, was einem Anstieg von circa 30 Prozent der durchschnittlichen Influenzasterblichkeit entspricht, so steigt der Stimmenanteil um gut 8 Prozent im Vergleich zu 1912. Dieser Effekt bleibt stabil bis zum Jahr 1933. Der rechtsgerichtete Block hingegen verliert (siehe rechte Grafik).

Kommen andere Gründe in Frage?

Darum geht es im Großteil unseres Papers: Wir überprüfen, wie robust, wie stichhaltig unsere These ist, indem wir andere Gründe ausschließen, die womöglich auch hinter diesem Linksruck stecken könnten. Weitere Gründe für den Linksruck könnten etwa verstärkte Armut oder Ungleichheit in den Weltkriegsjahren sein. Wir berechnen anhand von Daten zu Vermögen und Einkommen Gini-Koeffizienten, ein statistisches Maß für Ungleichverteilungen, und verwenden Daten zum Anteil der Armen. Die Aufnahme dieser Kontrollvariablen in unser Modell verändert den Effekt der Spanischen Grippe jedoch nicht. Wir überprüfen zudem die Entwicklung der Kindersterblichkeit in den betroffenen Gebieten, da diese in der Gesundheitsökonomik ebenfalls als wichtiger Indikator für prekäre Lebensverhältnisse wie etwa Nahrungsknappheit gilt. Es ist jedoch nicht der Fall, dass die Kindersterblichkeit in Wahlkreisen mit höherer Influenzasterblichkeit vor 1918 anders verläuft als in Wahlkreisen mit niedrigerer Influenzasterblichkeit. Daten für die Todesursachen auf Stadtebene zeigen zudem, dass unsere Effekte tatsächlich durch Sterblichkeit aufgrund von Atemwegserkrankungen getrieben werden, also genau durch die Todeskategorie, in der Grippetote aufgenommen werden. Darüber hinaus finden wir weder für die Übersterblichkeit in den Kriegsjahren vor 1918 noch für jene im Jahr 1918, die nicht durch die Spanische Grippe erklärt wird, auch nur annähernd ähnliche Effekte. Wir kommen also zu dem Schluss, dass dieser Linksruck wirklich speziell durch die Spanische Grippe getrieben ist.

Warum dieser Linksruck?

Die Politikwissenschaft erklärt Wahlverhalten oft damit, dass Wählerinnen und Wähler Politikerinnen und Politiker für gute Politik belohnen oder für schlechte Politik bestrafen. Aber in unserer Konstellation trifft das nicht zu; unsere Daten zeigen, dass die Gewinner der vergangenen Wahl(en) in einem Wahlbezirk durch die Spanische Grippe weder systematisch mehr, noch systematisch weniger Stimmen auf sich vereinen können.  Eine andere Möglichkeit wäre eine Protestwahl, die die extremistischen Parteien stärkt. Aber auch das sehen wir nicht. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine verstärkte Spaltung in den betroffenen Gebieten. Unsere Auswertung, in der wir den linken Block aufschlüsseln, zeigt vielmehr, dass mit der SPD die gemäßigte Linke gewinnt. Die kommunistische Partei verliert sogar:

Die plausibelste Erklärung für unsere Ergebnisse liefert die „Issue-Ownership“-Theorie aus der Politikwissenschaft. Diese besagt, dass Parteien, die ein Thema besetzen und darin glaubhaft Expertise signalisieren, Stimmengewinne verzeichnen, sobald dieses Thema für die Bevölkerung wichtiger wird. Der SPD ist es gelungen, Gesundheit als öffentliches Thema zu etablieren und zu besetzen – und zwar nicht erst mit dem Ausbruch der Spanischen Grippe. Die SPD hatte im Gegensatz zu anderen Parteien das Thema Gesundheit mit Fokus auf die Arbeiterschaft bereits davor in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Auch bei den Selbstverwaltungsgremien der Krankenversicherungen war sie stark vertreten. Dabei hatte die SPD die durch Bismarck im Jahr 1884 eingeführte Pflichtkrankenversicherung ursprünglich scharf als Bestechungsversuch der Arbeiterschaft kritisiert. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es der SPD jedoch im Anschluss gelang, die Lorbeeren für diese revolutionäre sozialpolitische Maßnahme einzuheimsen. Noch einen weiteren Beleg können wir für die „Issue-Ownership“-Theorie anführen: Unsere Analysen zeigen, dass auch die Liberalen politisches Kapital aus der Pandemie schlagen konnten - und damit genau die Partei, der viele Ärzte angehörten und die die Sozialhygienebewegung unterstützt hatte.

Über die Autoren

Prof. Dr. Stefan Bauernschuster ist Inhaber des Lehrstuhls für Public Economics und Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Passau. Er hat in anderen Studien bereits mit Hilfe ökonometrischer Methoden historische Sterbe- und Bevölkerungsdaten analysiert. Zum Beispiel hat er zusammen mit Erik Hornung, mit dem er auch in diesem Projekt wieder zusammenarbeitet, gezeigt, wie die erste allgemeine Pflichtkrankenversicherung unter Bismarck durch die Verbreitung von exklusivem medizinischen Wissen Leben im Deutschen Reich gerettet hat.

Dr. Matthias Blum ist Ökonom und Politikberater in der Bundesärztekammer. Er hat in einer Arbeit historische Daten zu Sterbeursachen in 213 deutschen Städten zusammengetragen, die in die Analysen des aktuellen Working Paper eingeflossen sind.

Prof. Dr. Erik Hornung ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind langfristige Entwicklung und Wirtschaftswachstum. Er verwendet mikroökonometrische Methoden, um die treibenden Kräfte des Übergangs zum modernen Wirtschaftswachstum zu analysieren.

Dr. Christoph König ist Assistenzprofessor für Ökonomie an der Universität Tor Vergata in Rom. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Politökonomie und Wirtschaftsgeschichte. Er beschäftigte sich unter anderem mit dem politischen Einfluss der Weltkriegsveteranen in der Weimarer Republik. Bei der Auswertung der Wahldaten fiel ihm der Zusammenhang zwischen Linksruck und Übersterblichkeit im Jahr 1918 auf, der nun Thema des aktuellen Working Papers ist.

Die Studie "The Political Effects of the 1918 Influenza Pandemic in Weimar Germany" ist als Working Paper beim Centre for Economic Policy Research (CEPR), bei CESifo, in der Reihe ECONTribute der Universitäten Bonn und Köln sowie in der Discussion Paper Series des IZA Institute of Labor Economics erschienen. Bei einem Working Paper handelt es sich um eine Vorabveröffentlichung in Form eines Diskussionspapiers, das noch kein Peer-Review-Verfahren durchlaufen hat. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzen dieses Format, um vorläufige Ergebnisse von anderen Sachverständigen kritisch beleuchten zu lassen, bevor sie den Aufsatz bei einer Fachzeitschrift einreichen.

Prof. Dr. Stefan Bauernschuster

forscht zu empirischer Evaluation politischer Maßnahmen

Wie beeinflussen politische Maßnahmen Entscheidungen von Individuen und Familien?

Wie beeinflussen politische Maßnahmen Entscheidungen von Individuen und Familien?

Prof. Dr. Stefan Bauernschuster ist seit 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Public Economics an der Universität Passau sowie Projektleiter im DFG-Graduiertenkolleg 2720. Er ist Forschungsprofessor am ifo Institut München, Research Fellow des CESifo Netzwerks, Research Fellow des IZA Bonn und Mitglied des Ausschusses für Sozialpolitik beim Verein für Socialpolitik.

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