Eine neue Welt mit unbegrenzten Zugangsmöglichkeiten und umfassender Chancengerechtigkeit – diese Vorstellungen verband die digitale Avantgarde der Neunzigerjahre mit dem Internet. Herr Dr. Scheffer, in Ihrer neuen Studie Digital verbunden – sozial getrennt zeigen Sie dagegen auf, wie die Kluft zwischen Arm und Reich möglicherweise auch durch die Digitalisierung vergrößert wird.
Jörg Scheffer Genau. Auch wenn gerade jetzt in Zeiten der Pandemie die Digitalisierung gesellschaftliche Teilhabe garantiert und darüber hinaus viel dafürspricht, dass Digitalisierung milieuübergreifend eine große Chance bietet, sich zu bilden, vertrete ich auf der Grundlage meiner Untersuchungen die gegenteilige Meinung: Je stärker wir in einer unkritischen Art und Weise auf Digitalisierung setzen, desto größer ist die Gefahr, dass sich soziale Ungleichheit fortschreibt und Arm und Reich letztlich noch weiter auseinanderdriften. Um dies besser verstehen zu können, muss man sich anschauen, was die Stellschrauben für sozialen Aufstieg sind. Wesentlich ist dabei die Frage, inwiefern der Einzelne auf aufstiegsrelevante Ressourcen in seinem Leben zugreifen kann und wie sich diese Zugriffsmöglichkeiten in der Gesellschaft unterscheiden. Es besteht weitgehender Konsens darüber, dass schulische Bildung in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt. Aber darüber hinaus: Mit wem habe ich zu tun? Welche sozialen Kontakte habe ich im Alltag? Was lerne ich von anderen? Kann ich soziale Netzwerke aufbauen, die mich später vielleicht weiterbringen können? Welche Verhaltensweisen lege ich an den Tag? Welchen Geschmack habe ich und kann ich mit diesem an andere Milieus anschließen? Der Soziologe Pierre Bourdieu würde hier vom sozialen und kulturellen Kapital sprechen, das die Aufstiegschancen ungleich vorstrukturiert. Es geht darum, wie ich wo ankomme und wie ich wo weiterkomme. Dabei spielt die räumliche Dimension eine wichtige Rolle. Für mich als Geograf macht sie diese Thematik wahnsinnig interessant.
PD Dr. Jörg Scheffer ist Akademischer Oberrat im Fachbereich Geoinformatik und Geografie an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Digitale Geographien, Kulturtheorie, Stadt- und Sozialgeographie, Populärkultur und räumliche Repräsentation, Geographische Informationssysteme und Neue Medien.
Inwiefern spielt der Raum hier denn eine Rolle?
Scheffer Mit den räumlichen Dimensionen verbinden wir ganz unterschiedliche Lebensumstände und Chancen. Polarisierend beschrieben, wohnen die einen am Stadtrand in einer Großwohnsiedlung, die anderen im wohlhabenden Innenstadtquartier. Mit den verschiedenen Standorten gehen unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen einher. Während die privilegierten Bevölkerungsteile in ihrem Umfeld von aufstiegsrelevanten Ressourcen profitieren, also hilfreiche Kontakte und Anregungen erhalten, mit vorteilhaften Rollenmustern, Ausdrucksweisen und Trends direkt konfrontiert werden, bietet sich dieser Zugang den benachteiligten Milieus nur sehr bedingt. Das Wohnumfeld, die erreichbaren Schulen, die genutzten Freizeiteinrichtungen oder nahe liegenden Versorgungseinrichtungen sind Räume zur Aneignung von aufstiegsrelevanten Ressourcen – Räume die von Stadtbewohnerinnen und -bewohnern aber in ganz unterschiedlicher Weise erreicht, genutzt und wahrgenommen werden können. Wenn ich also nicht über entsprechende Geldmittel, Bildung, Geschmack, Stil usw. verfüge, werde ich in vielen Situationen ausgeschlossen und bleibe auf mein eigenes Milieu verwiesen.
Aber kann hier nicht genau das Internet ein Fenster zu einer „anderen“ Welt sein?
Scheffer Das ist ein gutes und naheliegendes Argument, denn die Digitalisierung verheißt ja im Grunde, dass ich Räume überspringen kann, dass ich mich tatsächlich mit milieufremden Codes und Lebensentwürfen intensiv auseinandersetzen kann und dass ich Zugang bekomme. Die vielen sozialen Hürden des Realraums scheinen im Cyberspace – in der digitalen Sphäre – auf den ersten Blick nicht zu existieren. Es scheint, als müsste man nur auf diese Ressourcen verweisen, um die Einzelne oder den Einzelnen im Prozess des sozialen Aufstiegs zu befähigen.
Die sich rasant entwickelnde Datenökonomie festigt und reproduziert das bereits in uns Angelegte. Sie holt uns bei uns selbst ab und belässt uns gleichzeitig dort, wo wir bereits stehen.
PD Dr. Jörg Scheffer, Akademischer Oberrat im Fachbereich Geoinformatik und Geografie an der Universität Passau
Aber das ist nur der erste Blick, denn auch der Cyberspace verlangt eine Abgabe. Diese Abgabe erfolgt bekanntlich nicht oder eher selten monetär. An die Stelle der konventionellen Bezahlung rückt eine neue Währung. Es sind unsere Daten, die wir tagtäglich für fast alles abgeben, was wir in der digitalen Sphäre und teilweise auch im Realraum machen. Über diese Daten verfügen wir bequemerweise alle in Massen, sodass auch die bildungsferneren Milieus zunächst keinen Nachteil haben. Entscheidend ist nun aber, wie diese Daten verwendet werden und welche Folgen dies für die Einzelnen hat. Hier kommen wir an einen neueren Punkt in der Forschung. Wie funktioniert die Datenökonomie und wie fällt die Inwertsetzung des Persönlichen auf die Konsumentinnen und Konsumenten zurück? Problematischerweise kommen wir erneut zu Restriktionen, die sich gesellschaftlich ganz ungleich ergeben und die die sozial- und kapitalschwachen, bildungsfernen Bevölkerungsteile stärker belasten als die anderen.
Inwiefern? Können Sie das etwas genauer ausführen?
Scheffer Die gesammelten Daten sind umso wertvoller, je mehr präzise und eingehende Informationen sie über uns enthalten. Personenbezogene Daten werden immer stärker zum Garanten des unternehmerischen Erfolges. Mit ihnen können Unternehmen besser planen, Risiken abschätzen, Produktion und Marketing auf die Kundin und den Kunden exakt ausrichten. Verhalten lässt sich zunehmend vorhersehen. Diese Passgenauigkeit der Daten, die auch durch das Zusammenfügen unterschiedlicher Datensätze immer weiter gesteigert wird, hat eine neue Datenökonomie entfacht. Sie umfasst auch zahlreiche Datenhändler, die Unternehmen mit unterschiedlichen Anliegen in umfangreichem Maße versorgen können. Die sozialen Verhältnisse, das Zahlungsverhalten, die Bonität, Freizeitgewohnheiten, Konsumpräferenzen – all das sind für Datenhändler keine Geheimnisse mehr. Im Kreislauf der Datenökonomie werden wir schließlich wieder mit unseren Daten adressiert, denn diese wären ja nichts wert, wenn sie nicht tatsächlich auch monetarisiert würden. Egal ob Versicherungen, Kreditkonditionen oder Shoppingangebote, sie alle funktionieren datenbasiert dadurch, dass sie einen besonders passgenau erreichen. Diese genauen Zuspielungen bedeuten aber letztlich, dass jede und jeder Einzelne zunehmend mit sich selbst konfrontiert wird. Partnervermittlungen setzen schon lange stark auf soziale Kriterien, aber selbst Bildungsangebote, soziale Kontakte und Informationen, die mir zugespielt werden, sind personalisiert. Was wir auf der einen Seite als Relevanzgewinn bejubeln, bedeutet auf der anderen Seite eine schleichende Selbstspiegelung.
Was wir auf der einen Seite als Relevanzgewinn bejubeln, bedeutet auf der anderen Seite eine schleichende Selbstspiegelung.
PD Dr. Jörg Scheffer, Akademischer Oberrat im Fachbereich Geoinformatik und Geografie an der Universität Passau
Wir haben es folglich mit einen personalisierten Zuweisungssystem zu tun, das mit wachsender Passgenauigkeit uns das offeriert, was zu uns passt. Umgekehrt klammert sie Fremdes und Instruktives systematisch aus. Für die Frage nach den sozialen Aufstiegschancen ist dieser Befund überaus bedeutsam: Die sich rasant entwickelnde Datenökonomie festigt und reproduziert das bereits in uns Angelegte. Sie holt uns bei uns selbst ab und belässt uns gleichzeitig dort, wo wir bereits stehen. Für den beschriebenen Ressourcenerwerb bedeutet die digitale Vermessung und die darauf aufbauende Inwertsetzung des „Datengoldes“ eine massive Beeinträchtigung individueller Optionen.
Das heißt, dass der Blick über den Tellerrand digital nicht gelingt, sondern sich jeder weiter nur seinem eigenen Resonanzraum bewegt.
Scheffer Genau das ist die Tendenz. Das, was Eli Pariser mit der Filterblase schon vor acht Jahren beschrieben hat und damals im Wesentlichen auf Informationen bezogen hat, können wir jetzt auf alle Bereiche ausweiten, die für den sozialen Aufstieg relevant sind. Wenn es darum geht, milieufremde Ressourcen zu beziehen, stellen wir schnell fest, dass diese Filterblase viel umfassender ist. Natürlich hat man trotzdem die Freiheit, auch andere Dinge anzuklicken und abzurufen, doch die passgenauen Vorschläge und Zuspielungen sind von großer Hermetik. Noch eingrenzender sind Einflüsse, die direkt in unseren realräumlichen Alltag hineinreichen. So gibt es spannende Wechselwirkungen zwischen Cyberspace und Realraum: Bewegungsdaten etwa verraten ganz viel darüber, wer ich bin, was ich mache und welchem Milieu ich angehöre. Es gibt Techniken, wie beispielsweise die des Geoscorings, die meine Adresse auswerten und mir dadurch bestimmte Bonitätswerte zurechnen. Aufgrund von Kundendaten passen sich Sortimente im Supermarkt der umliegenden Bevölkerung an und Apps lotsen uns nach Maßgabe individueller Präferenzen zu Partnern, Sonderangeboten oder Urlaubsattraktionen. Die milieuspezifische oder personalisierte Ansprache greift also auch zunehmend in unseren Alltag ein und hört nicht auf, wenn wir den Computer ausschalten.
Die Frage der Räumlichkeit – digitaler Raum versus Realraum – finde ich interessant: Dem digitalen Raum wird bei Ihren Überlegungen eine sehr große Wirkmächtigkeit beigemessen. Ich könnte ja auch etwas naiv sagen: Da sitze ich vor meinem Computer und sehe dies und das und gebe meine Daten ein, aber ich bewege mich ja auch noch außerhalb des digitalen Raumes. Oder andersherum gefragt: Kann eine Ungleichheit im digitalen Raum verhindern, dass ich im realen Raum zu einer Bildungsaufsteigerin werde?
Scheffer Realraum und digitaler Raum sind zunehmend Registrierplatten für alltägliche Routinen, für das, was mich im Alltag interessiert und ausmacht, was mich prägt. Und beide sind Sphären der personalisierten Ansprache und Inwertsetzung. Im Grunde ist diese Unterscheidung jedoch künstlich, weil man beispielsweise mit dem Smartphone immer im virtuellen und realen Raum zugleich sein kann. Lassen Sie es mich am Beispiel der Vorbilder verdeutlichen: Im Realraum bin ich in sozial schwachen, bildungsfernen Milieus oft weit weg von jenen Vorbildern, denen ich nacheifern könnte. Aber auch im virtuellen Raum kann ich diese nicht wirklich kennenlernen. Ich kann dort zwar zu vielen Menschen in Kontakt treten, aber wenn es darum geht, dass daraus verbindliche Beziehungen werden, Freundschaften, die einem auch im realen Leben weiterhelfen, dann zeigen wissenschaftliche Auswertungen, dass dies selten der Fall ist.
Dann führen die von Ihnen beschriebene Dynamiken im Grunde zu einer weiteren Segmentierung der Gesellschaft?
Scheffer Sie führen auf Sicht zu einer Verfestigung der sozialen Verhältnisse. Grundsätzlich ist unbestritten, dass die soziale Durchlässigkeit gerade in Deutschland weiterhin sehr gering ist und dass Bildungschancen mit dem sozialen Hintergrund korrelieren. Wir haben es in wachsendem Maße – das zeigen aktuelle Zahlen überdeutlich – mit einem starken Auseinanderdriften von Arm und Reich zu tun. Und wir haben in den letzten Jahren eine gesteigerte soziale Sortierung in den Städten erlebt: Sozial Schwachen ist es kaum mehr möglich, in attraktiven Lagen zu wohnen. Damit werden letztlich auch Ressourcen und Aufstiegschancen sortiert. Und all das ist wiederum die Erfassungsgrundlage für die Datensammler. Da spielt es eine ganz große Rolle, welche Adresse man angibt und was man in diesen Räumen tut.
Sind sich die Nutzerinnen und Nutzer dessen eigentlich bewusst?
Scheffer Nein, ich glaube nicht. Es ist eine große Herausforderung in unserer Gesellschaft nicht nur zu kommunizieren, dass wir permanent mit Daten bezahlen. Ich glaube, das ist in den letzten Jahren in den Feuilletons breit kommuniziert worden. Entscheidend ist, was die erfassten Daten zunehmend in und mit unserem Alltag machen. Unsere Alltagsräume werden schleichend – online wie offline – mit „Spiegeln“ durchsetzt. Das Vergangene und Biografische sind Grundlage einer ökonomischen Ansprache, während gerade das Verlassen der alten Biografie die Voraussetzung für den sozialen Aufstieg bedeutet.
Wie lässt sich die beschriebene Entwicklung der zunehmend verspiegelten Räume und der sozialen Ungleichheit stoppen?
Scheffer Ich sehe zwei Perspektiven: Die eine ist, dass man die digitale Mündigkeit über Bildungsprozesse weiter fasst. Wir brauchen eine noch bessere Aufklärung darüber, welche Auswirkungen die Abgabe der eigenen Daten auf den sozialen Alltag hat. Von der Datenökonomie wissen die wenigsten. Eine andere Strategie könnte darin liegen, sich strategisch ein bestimmtes Datenportfolio anzueignen oder das eigene Portfolio mit Daten strategisch zu füttern. Auch dazu bräuchte es weiterer Bildung und Anleitung.
Die beiden Szenarien sind eher auf der Userseite. Das heißt, Sie sehen hier keine Möglichkeit, wie man durch regulatorisch-politische Entscheidungen aufseiten der Datenprofiteure Einhalt gebieten kann?
Scheffer Doch, ich denke, dass man über gesetzgebende Verfahren noch mehr erreichen kann. Wir haben in Europa immerhin schon eine relativ strenge Datenschutzgrundverordnung, eine viel stärkere als sie beispielsweise die USA haben. Wir sehen jedoch, dass der Datensammelleidenschaft der Unternehmen dadurch kein Riegel vorgeschoben wird. Ich glaube, dass es in unserer datengetriebenen Ökonomie kaum möglich ist, diesen Prozess von politischer Seite gänzlich zu stoppen. Und es ist eine enorme Herausforderung, bereits Erfasstes zu tilgen – Daten, die sich in einem globalen Verwertungssystem längst an zahlreichen virtuellen Orten verflüchtigt haben. Aber ich würde dennoch die Politik in der Verantwortung sehen, denn es geht darum, die richtigen Bildungsakzente zu setzen.
Das Interview führte Barbara Weinert.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 28.05.2021 in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift "tv diskurs.Verantwortung in audiovisuellen Medien".
Zur Methode: Empirisches Forschungsdesign
Ein Einblick in die datenökonomische Verwertungspraxis und ihren reproduktiven Einfluss konnte über die Portfolios großer Datenhändler gewonnen werden. Die Anbieter auf dem deutschen Markt halten Kundenprofile, Firmenadressen und E-Mail-Kontakte im Umfang von jeweils mehreren Millionen bereit. Zahlreiche Zusatzmerkmale zum Konsumverhalten, zur Soziodemografie, zur Wohn- und Lebenssituation, zur Wechselwahrscheinlichkeit der Krankenkasse oder zur Affinität zum Schnäppchenkauf sind erfasst und können interessensabhängig selektiert werden. Aus einer räumlichen Perspektive konnte angesichts dieses umfangreichen Angebots der Frage nachgegangen werden, wie diese Daten in den Alltag des Einzelnen eingreifen und inwiefern sie die Gelegenheitsstruktur eines Stadtbewohners beeinflussen können.
Die Visualisierung von Nutzerdaten aus Berlin, München und Essen zeigte clusterartig die unterschiedlichen Milieus im Stadtraum mit jeweils spezifischen Präferenzen der Bewohner auf. Sie führt exemplarisch vor Augen, wie über interessenabhängige Selektionsvorgänge eine extern arrangierte Verknüpfung von Gruppen (z.B. Quartiersbewohner mit einer bestimmten Affinität zum Schnäppchenkauf) mit Angeboten und Informationen (z.B. günstige Artikel über das Homeshopping) zustande kommt. Der Verbraucher wird aufgrund von erfassten Eigenschaften eine multiple Zielperson von Datenkäufern. Je intensiver personalisierte Produkte und Dienste an den Quartiersbewohner herangetragen werden, desto wahrscheinlicher ist eine selbstbezügliche Alltagsgestaltung und ein Beharren im Vertrauten – was die sozialen Verhältnisse konserviert.