Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 3/2020 des Transfermagazins „TRIOLOG. Wissenschaft – Wirtschaft – Gesellschaft in Ostbayern“ mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit. Der Hochschulverbund Transfer und Innovation Ostbayern (TRIO) ist ein Projekt der sechs ostbayerischen Hochschulen, an dem auch die Universität Passau beteiligt ist. Das Projekt wird aus dem Programm "Innovative Hochschule" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert und hat eine Laufzeit von fünf Jahren. TRIO sieht sich als Impulsgeber für Innovationen in Ostbayern. Ziel von TRIO ist es, Wissens- und Technologietransfer auszubauen und aktiv zu gestalten und den Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft in der Region zu verstärken.
Deutsche Umweltstandards sind vergleichsweise strikt. Wichtige Güter wie Wasser oder Boden werden durch Regelungen geschützt, die einen Ersatz von Schäden auch ohne Verschulden erfordern. Als einzige Industrienation hat sich Deutschland auf den Weg aus der Kernkraft gemacht. Reichen wird es trotzdem nicht. Arranging deck chairs on the Titanic hat Donella Meadows schon 1999 die Politik der kleinen Schritte genannt, die die tieferen Ursachen der meisten Umweltprobleme unberührt lässt. Kann Recht aber überhaupt transformativ sein? Warum ist es das Gebot der Nachhaltigkeit nicht? Und welchen Beitrag könnte unsere Rechtsordnung leisten, um zusammen mit anderen gesellschaftlichen Steuerungssystemen die sich abzeichnende Katastrophe Homo sapiens vielleicht noch abzuwenden?
Prof. Dr. Jörg Fedtke
Wie kann das Recht dem Gebot der Nachhaltigkeit mehr Kontur verleihen?
Wie kann das Recht dem Gebot der Nachhaltigkeit mehr Kontur verleihen?
Prof. Dr. Jörg Fedke ist seit 2014 Inhaber des Lehrstuhls Common Law an der Universität Passau. Von 2017 bis 2020 war er Vizepräsident für Qualitätsmanagement und Diversity und ist derzeit Dekan der Juristischen Fakultät. Zuvor hatte Professor Fedtke akademische Positionen in Deutschland, Großbritannien und den USA inne.
Transformatives Verfassungsrecht?
1949 wurde Visionäres ins Grundgesetz geschrieben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Erst ein Vergleich mit anderen Ländern verdeutlicht den transformativen Charakter dieser sechs Worte. Dies gilt für die Abwehr staatlicher Eingriffe (etwa im Datenschutz) wie für die Frage, was der soziale Staat leisten muss, um die grundlegenden Bedürfnisse menschlicher Existenz zu sichern. Verfassungsänderungen, die die Menschenwürde berühren, sind verboten.
So wie Odysseus sich an den Mast seines Schiffes fesseln ließ, um sich gegen den Gesang der Nymphen zu wappnen, schränkt das Grundgesetz unsere Gestaltungsfreiheit ein und versucht, uns vor einer Abkehr vom Kompass Menschenwürde zu bewahren.
Prof. Dr. Jörg Fedtke, Universität Passau
Visionäres wurde 1947 auch in die Verfassung von Bremen aufgenommen: Der Mensch steht höher als Technik und Maschine. Zum Schutz der menschlichen Persönlichkeit und des menschlichen Zusammenlebens kann durch Gesetz die Benutzung wissenschaftlicher Erfindungen und technischer Einrichtungen unter staatliche Lenkung gestellt sowie beschränkt und untersagt werden. Nicht alles, was technisch möglich ist, soll praktisch umgesetzt werden können. Später wurde in Bremen, wie im Grundgesetz auch, das Prinzip der Nachhaltigkeit hinzugefügt. Trotzdem ist die Belastbarkeit vieler natürlicher Systeme heute erreicht oder bereits überschritten. Warum war dieses Verfassungsrecht, im Gegensatz zum Schutz der Menschenwürde, bislang nicht transformativ?
Nachhaltigkeit - auf eine ferne Zukunft gerichtet
Diktatur, Krieg und Holocaust bilden einen besonderen Ausgangspunkt für die Entwicklung der Grundrechte in Deutschland nach 1945. Die Bedeutung der Menschenwürde ruht ganz wesentlich auf dem Blick zurück und der Einsicht, dass sich diese Ereignisse nicht wiederholen dürfen. Das Gebot der Nachhaltigkeit war demgegenüber lange Zeit auf eine für den Einzelnen wahrscheinlich nicht mehr erlebbare Zukunft ausgerichtet. Vielfach geht es zudem um Realitäten, die mit der Erfahrungswelt vieler Menschen scheinbar nur wenig zu tun zu haben, weil Gefahrenlagen unsichtbar sind (zum Beispiel Mikroplastik), erst durch die Wissenschaft überhaupt greifbar werden (abstrakte Grenzwerte als Maßstäbe für Sicherheit oder Gefahr), weitab des eigenen Lebens in Katastrophen umschlagen (etwa das Abschmelzen der Polarkappen) oder sich in so kleinen Schritten vollziehen, dass Verhaltensänderungen nicht notwendig erscheinen (so bei der Klimaerwärmung). Während sich die Menschenwürde als Verfassungswert also fast aufdrängte, hat Nachhaltigkeit seine Relevanz auch heute in der Vorstellung weiter Bevölkerungsteile nicht etablieren können.
Rechtliche Unterschiede kommen hinzu. Die Menschenwürde ist ein Grundrecht, während Nachhaltigkeit eine Staatszielbestimmung beschreibt. Diese ist zwar Richtlinie für staatliches Handeln und damit Verfassungsnorm mit rechtlicher Bindung; anders als Grundrechte sind Staatsziele durch die Bürgerin oder den Bürger jedoch nicht individuell einklagbar und insofern deutlich abstrakter.
Ökologische Folgen schwer erkennbar
Auch praktische Umstände untergraben Nachhaltigkeit. So sind die ökologischen Folgen vieler Aktivitäten heute nur schwer erkennbar. Wer in Europa einen Lichtschalter bedient, trägt über die Nutzung fossiler Brennstoffe zu Veränderungen bei, die örtlich und zeitlich in großer Ferne liegen können. Hinzu kommt, dass es sich oft um sehr kleine – in der Summe aber erhebliche – Beiträge handelt. Wenn etwa Teilnehmende eines Chats mit Emojis auf Nachrichten reagieren, ist der Energieverbrauch der einzelnen Antwort kaum zu messen. Wenn die Zahl dieser Vorgänge jedoch im Milliardenbereich liegt (alleine WhatsApp verarbeitet täglich über 60,000,000,000 Nachrichten), ist die hierfür erforderliche Energiemenge signifikant. Die Kausalität zwischen der einzelnen Nachricht und ihren ökologischen Folgen steht außer Frage; der Beitrag ist aber so stark verdünnt, dass dem Sender oder der Senderin Zweifel an der Nachhaltigkeit des eigenen Verhaltens nicht kommen. Unzählige weitere Beispiele dieser Art ließen sich nennen.
Eng hiermit verbunden ist die Unkenntnis der exakten Konsequenzen auch ganz einfacher Tätigkeiten. Technischer Fortschritt erlaubt zusammen mit moderner Massenproduktion die millionenfache Herstellung von Maschinen, deren Bauplan, Materialverbrauch, Energiekonsum oder Entsorgungsbilanz den meisten Nutzerinnen und Nutzern völlig unbekannt sind. Gekauft, gebraucht und weggeworfen werden Fernseher, Telefone, Computer, Drucker, Kühlschränke, Waschmaschinen, Wäschetrockner, Wasserkocher, Blender, Staubsauger, Robomäher, oder Laubbläser trotzdem. Verantwortung setzt jedoch Wissen voraus. Hier stellt sich die Frage, ob der moderne Mensch die Folgen seines Handelns bei der Fülle notwendiger Informationen abwägen kann und ob dies von der Gesellschaft überhaupt verlangt wird. Alle handeln schließlich, ohne die ökologischen Konsequenzen vollends zu überblicken. Gesellschaftlich sanktionierte Nachlässigkeit untergräbt so verfassungsrechtlich gebotene Nachhaltigkeit.
Risiken, die nicht beherrschbar sind
Auch Generationengerechtigkeit ist aufgrund der oft langfristigen und unumkehrbaren Gefahrenlagen selten zu erzielen. Ein Beispiel bietet das Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle. Die zuständige Kommission soll einen Ort finden, der eine sichere Verwahrung dieser Stoffe für 1,000,000 Jahre verspricht. Bei einer gegenwärtig mit rund 30 Jahren angesetzten Generationenfolge geht es also um knapp 34,000 Generationen. Das Problem dieser Zahlen liegt weniger in der sinnvoll nicht mehr vorstellbaren Zeitdauer; die Abfälle sind so gefährlich und müssen dementsprechend lange unter Verschluss gehalten werden. Bemerkenswert ist vielmehr, dass die Menschheit Substanzen dieser Art überhaupt herstellt und Risiken eingeht, die unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten nicht mehr ernsthaft beherrschbar erscheinen.
Möglicherweise ist der Grund, weshalb das Gebot der Nachhaltigkeit bislang nicht transformativ war, aber auch auf einer ganz anderen Ebene zu suchen. Die technischen Fortschritte der vergangenen 250 Jahre – Erfolge einer kleinen Anzahl rastloser Denker – sind der evolutionären Entwicklung der Spezies Homo sapiens weit enteilt. Dies hat zu einer Anpassungslücke (evolutionary mismatch) geführt, die es uns erschwert oder gar unmöglich macht, wichtige Vorgänge in der von uns selbst veränderten Umwelt gänzlich zu begreifen und dementsprechend verantwortungsvoll zu handeln. Biologisch haben wir uns in den vergangenen 10,000 Jahren nur wenig verändert und definieren auch Verantwortung immer noch ganz instinktiv mit Bezug auf unseren engen räumlichen Lebenskreis und wenige Familiengenerationen. Heute leben wir jedoch in einer komplexen und global vernetzten Risikogesellschaft, die uns ein verändertes Verständnis vieler Sachverhalte und damit auch ein ganz anderes Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit der Natur abverlangt. Hierin mag schlichtweg eine biologische Überforderung liegen.
Richterinnen und Richter - die besseren Sachwalter der Zukunft?
Die Menschheit wird schnell Lösungen für die vielen ökologischen Probleme finden müssen, die heute nicht mehr zu ignorieren sind und schon bald akut werden dürften. Dabei wird es zu einem Paradigmenwechsel kommen müssen. So ist etwa in Frankreich 2005 ein Verfassungszusatz in Kraft getreten, der dem Gebot der Nachhaltigkeit stärkere Konturen verleiht und im Ergebnis eine ressortübergreifende Umweltverträglichkeitsprüfung verlangt.
Wenn jedoch der oder die Einzelne tatsächlich nur noch in Grenzen verantwortungsvoll handeln kann, stellt sich die Frage, wie auch über das Privatrecht stärkere Impulse zum Schutz der Umwelt gesetzt werden könnten. Hier bietet sich eine weitere Verschiebung des Haftungsrechts von der traditionellen Verschuldenshaftung hin zu einer verschuldensunabhängigen und von bestimmten Tätigkeiten, Anlagen oder Stoffen entkoppelten Gefährdungshaftung an. Die Vorteile liegen dabei in einer größeren Offenheit gegenüber unterschätzten oder neuen Gefahrenquellen sowie in einer Verlagerung der Einschätzungsprärogative vom Gesetzgeber hin zu den Gerichten. Möglicherweise sind Richterinnen und Richter die besseren Sachwalter einer zunehmend gefährdeten ökologischen Zukunft.
Objektiv erforderliche Nachhaltigkeit, das zeigt die gegenwärtige Pandemie, wird dabei auf mächtigen subjektiven Wiederstand treffen.
Erforderlich sind etwa Lösungen im Umgang mit sehr geringen Schadensbeiträgen und vielen – möglicherweise geographisch weit verteilten – Verursachern. Große zeitliche Fernwirkungen ökologisch relevanter Verhaltensweisen könnten über Zukunftsfonds abgebildet werden. Bei großen Schadensereignissen wäre zu überlegen, Unternehmen zeitweise unter externe Kuratel zu stellen und künftige Gewinne zur Schadensbeseitigung einzusetzen. Schließlich werden Kennzeichnungspflichten, die eine umfassende Ökobilanz für alle auf den Markt gebrachten Produkte vorschreiben, wie auch Regelungen zu Lebensdauer, Reparaturfreundlichkeit, Ressourcenbelastung und Energieverbrauch von technischen Geräten unvermeidbar sein.
Wahrscheinlich werden die hier skizzierten Prämissen von den meisten Leserinnen und Lesern bezweifelt und die angedachten Instrumente in absehbarer Zukunft auch nicht eingeführt. Die Menschheit steht heute jedoch vor großen Herausforderungen. Als wichtiges Steuerungsmittel moderner Gesellschaften muss sich auch unsere Rechtsordnung dieser Realität stellen und Instrumente entwickeln, die vielleicht noch eine Kursänderung erlauben. Objektiv erforderliche Nachhaltigkeit, das zeigt die gegenwärtige Pandemie, wird dabei auf mächtigen subjektiven Wiederstand treffen. Möglicherweise wird sie sich dabei nur durchsetzen, wenn wir uns – wie bei der Menschenwürde – an den Mast eines unabänderlichen Verfassungsprinzips fesseln.