Die Schülerin steht auf einer einsamen Insel, vor ihr mehrere Pinguine. Wenn sie nach unten schaut, sieht sie, dass sie in der Hand eine Karte hält, die alle weiteren Inseln in der Umgebung zeigt. Wenn sie alle Routen zwischen den Inseln gefunden hat, steht am Ende eine Schatzkiste. Die einsame Insel, die Pinguine, die Schatzkiste – das sieht nur die Schülerin.
Außenstehende sehen dieses Bild:
Die Schülerin ist eine der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Studie, die der Informatikdidaktiker Andreas Dengel am Gymnasium im oberösterreichischen Schärding durchgeführt hat. Er untersucht im Rahmen seiner Promotion, wie virtuelle Welten den Lernerfolg im Unterricht beeinflussen können. Um das herauszufinden, hat Dengel 78 Schülerinnen und Schüler eine Woche lang in insgesamt drei virtuelle Welten geschickt: auf die oben genannte Schatzinsel (Lernziel: Verstehen von endlichen Automaten), in eine mittelalterliche Fantasiewelt mit Drachen (Lernziel: Verschlüsselung) und ins Innere eines Rechners (Lernziel: Aufbau eines Computers).
Dengel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMBF-Projekt SKILL. In seiner Promotion beschäftigt er sich mit dem interdisziplinären Forschungsfeld Immersive Learning, das Perspektiven der Erziehungswissenschaft, der Psychologie und der Informatik vereint. Zusammen mit Prof. Dr. Jutta Mägdefrau, Inhaberin des Lehrstuhls für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt empirische Lehr-/Lernforschung an der Universität Passau, hat er in einem Aufsatz ein theoretisches Rahmenmodell entwickelt, welche Faktoren den Lernerfolg in virtuellen Welten beeinflussen. Die IEEE International Conference on Teaching, Assessment, and Learning for Engineering (TALE) 2018 im australischen Wollongong zeichnete diese Arbeit mit einem Best Paper Award aus (mehr dazu).
Derzeit überprüft Dengel das in dem Paper entwickelte Rahmenmodell mit Hilfe der Studie an der Schärdinger Schule. Er untersucht, ob die eigens für den Informatikunterricht programmierten virtuellen Welten den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler im Fach Informatik steigern konnte.
Unterricht in realer und virtueller Welt
Im Informatikunterricht würde das Spiel mit der Schatzinsel folgendermaßen klingen: Endliche Automaten haben eine endliche Zahl von Zuständen. Einen Startzustand (erste Insel mit Pinguin drauf), Regeln für Zustandsübergänge (alle möglichen Schiffsrouten zwischen den verschiedenen Inseln), einen oder mehrere Endzustände (Schatzinsel). So kann beispielsweise erklärt werden, wie ein Kaffeeautomat funktioniert. Während eine mathematische Präzisierung (L = {Q = {q1, q2, q3, q4,}, s = q1, ∑ = {50ct, 1€, Abbruch}, F={q4}, …}) für den Anfang schwer verständlich wirken kann, ermöglicht Virtual Reality einen spielerischen Zugang zu dieser komplexen Thematik.
In vielen Fällen würde die Lehrkraft vorne stehen und diese Schritte erklären. Vielleicht würde sie die Funktionsweise noch anhand eines Kaffeeautomaten durchgehen. Die Schülerinnen und Schüler würden mehr oder weniger eifrig mitschreiben. Abhängig von Begabung, Lernmotivation, emotionalen und kognitiven Faktoren würden sie den Stoff mehr oder weniger gut verinnerlichen.
Mit Hilfe der virtuellen Welt sieht dieser Informatikunterricht dann folgendermaßen aus:
Andreas Dengel ließ je sechs Schülerinnen und Schüler die verschiedenen virtuellen Lernumgebungen an verschiedenen Geräten testen. Körperlich befinden sich alle im selben realen Raum, mental aber in unterschiedlichen virtuellen Welten.
„Fast die Hälfte der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler hatte bislang noch nie etwas mit virtuellen Welten zu tun“, sagt Dengel. „Die Erfahrung, in eine solche Welt einzutauchen, kann am Anfang schon sehr ungewohnt sein.“ Manchen Schülerinnen und Schülern sei denn auch schwindlig geworden. Das Gefühl gebe sich aber mit der Zeit.
Auch in virtuellen Welten wirken Faktoren wie Begabung, Lernmotivation, emotionale und kognitive Verfassung. Um diese in seine Studie mit einbeziehen zu können, hat Dengel die Schülerinnen und Schüler im Vorfeld einen Fragebogen beantworten lassen.
Seine wichtigsten Ansatzpunkte für den Lernerfolg in virtuellen Welten sind:
- Immersion: Diese beschreibt den Grad, zu welchem eine virtuelle Welt simuliert und der oder die Lernende von der realen Welt abgeschottet wird. Hier spielt die Technik eine wichtige Rolle: Braucht es unbedingt die High-End-Lösung, oder reicht womöglich auch eine mobile VR-Brille oder ein Laptop?
- Präsenzerleben: Dieses steht für das Gefühl, dass sich die Schülerinnen und Schüler tatsächlich in der virtuellen Lernumgebung befinden und diese als Realität erfahren.
Präsenzerleben aktiviert andere Bereiche im Gehirn als pures Auswendiglernen, namentlich das episodische Gedächtnis. Es ermöglicht, dass Menschen Erfahrungen abrufen können, die sie in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht haben. „Wir müssen uns hier gar nicht bemühen zu lernen“, sagt Dengel. „Wir erinnern uns einfach an bestimmte Dinge aus unserem Alltag ohne diese aktiv lernen zu müssen, zum Beispiel, was wir am Morgen gefrühstückt haben.“
Präsenzerleben ist die Stärke von virtuellen Welten. Sie könnte der Schlüssel dafür sein, jene Schülerinnen und Schüler in Informatik buchstäblich eintauchen zu lassen, die bei Frontalunterricht mit mathematischen Formeln bislang eher abgeschaltet haben.
Allerdings ist die Sache mit dem Präsenzerleben und der Wirkung auf den Lernerfolg kompliziert: Gutes Präsenzerleben muss nicht unbedingt heißen, dass dies den Lernerfolg steigert. Dengel wertet derzeit seine Studie aus. Hier kommt es bisweilen zu kuriosen Ergebnissen: Beispielsweise ist es so, dass Schülerinnen und Schüler, die gut in Deutsch sind, ein besseres Präsenzerleben haben, aber nicht unbedingt einen besseren Lernerfolg erzielen. Dengel vermutet, dass sich diese Schülerinnen und Schüler einfach besser in Fantasiewelten versetzen und sich dadurch auch in den virtuellen Welten präsenter fühlen können.
Eins jedenfalls hat Dengel mit seiner Studie in der Schule bereits geschafft: Die Schülerinnen und Schüler für das Medium Virtual Reality zu begeistern und auch das Interesse zu wecken, wie sich denn virtuelle Welten programmieren lassen. „Dazu kamen ganz viele Fragen“, erzählt Dengel.
Die virtuellen Welten, die Dengel in Schärding getestet hat, sind zum Teil in Seminaren an der Universität Passau im Rahmen des SKILL-Teilprojekts Information and Media Literacy entstanden. Dengel hat gemeinsam mit angehenden Lehrkräften überlegt, in welchen Bereichen der Einsatz von Virtual Reality sinnvoll wäre und wie diese virtuellen Lernumgebungen gestaltet werden müssten. Einige der studentischen Arbeiten, die in diesem und anderen Information-and-Media-Literacy-Seminaren entstanden sind, sind am Mittwoch, 24. April, von 10 bis 16 Uhr im Didaktischen Labor im Nikolakloster, Raum 211, zu sehen.
Das Projekt SKILL wird im Rahmen der gemeinsamen "Qualitätsoffensive Lehrerbildung" von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.
"SKILL" steht für "Strategien zur Kompetenzentwicklung: Innovative Lehr- und Beratungskonzepte in der Lehrerbildung". Das Projekt dient der Weiterentwicklung der Lehrerbildung an der Universität Passau.