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Welches Geschichtsbild treibt Putin an?

Forschungsschwerpunkt Europa: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen befassen sich mit den politischen, historischen und kulturellen Dynamiken. Für uns ordnen sie aktuelle Entwicklungen und Hintergründe zum Ukraine-Krieg ein. Teil 2: Osteuropa-Historiker Prof. Dr. Thomas Wünsch mit einer Einschätzung, wie Putins Geschichtsbild dessen Handeln erklären könnte.

Denkmal des mittelalterlichen Großfürsten Wladmir von Kiew, das Russlands Präsident Wladimir Putin 2016 in Moskau errichten ließ. Foto: Adobe Stock

Prof. Dr. Thomas Wünsch

Prof. Dr. Thomas Wünsch

Prof. Dr. Thomas Wünsch ist Inhaber des 

Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen

. Er forscht zur Geschichte und Kultur Polens, Tschechiens, der Ukraine, Russlands, Zentralasiens und des Balkanraums. Sein Lehrstuhl pflegt enge Verbindungen zu ukrainischen Universitäten, zur Ukrainian Catholic University in Lwiw und zur Yurii Fedkovych Chernivtsi National University. Gemeinsam mit Prof. Dr. Daniel Göler beteiligt er sich an einem Jean-Monnet-Netzwerk, das Universitäten aus der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion umfasst. Am Dienstag, 15. März, ist er von 17 bis 18 Uhr zu Gast in der digitalen Webinar-Reihe des Neuburger Gesprächskreises

Grundsätzlich freut es mich als Historiker, wenn Politikerinnen und Politiker geschichtsinteressiert sind. Doch was Russlands Präsident Wladimir Putin betreibt, ist ein Übermaß an einseitiger und gefärbter Interpretation, nicht unähnlich der Geschichtspolitik des ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević im Vorfeld der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre.

Putin bezieht sich in seiner Argumentation vor allem auf zwei länger zurückliegende Schichten. Es beginnt mit der Kiewer Rus‘, wohlgemerkt mit einem ,s‘ geschrieben. Dabei handelte es sich um ein mittelalterliches ostslawisches Staatswesen, das nur teilweise etwas mit dem heutigen Russland zu tun hat, in dem aber sowohl Russland als auch die Ukraine ihre historischen Wurzeln sehen. Putin knüpft hier vor allem an die frühe Zeit an, als 988 Fürst Wladimir mit seiner Taufe die orthodoxe Kirchentradition begründete. Die Namensgleichheit mit dem Fürsten tut ihr übriges.

Eine zweite historische Schicht ist das, was Putin als Eindämmungspolitik Russlands durch westliche Mächte sieht. Das beginnt im Grunde mit Peter dem Großen, dem Zar und Imperator im 18. Jahrhundert, der als Konkurrenz zum Habsburger Kaiser aufgetreten ist. Die Geschichtswissenschaft ist sich einig, dass der Monarch das russische Reich zu einer europäischen Großmacht ausbaute. Russland wollte seitdem immer als Großmacht gelten, und zwar nicht irgendwo, sondern in Europa. Genau aus diesem Verständnis heraus erklärt sich, warum Putin auf die anderslautende Formulierung des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, der Russland als Regionalmacht bezeichnet hatte, so allergisch reagiert.

Vieles deutet darauf hin, dass sich Putin vor allem auf das russländische Imperium der Zarenzeit bezieht, das aus vielen Nationen bestand, nicht nur der russischen. Daraus leitet er sein vermeintliches Recht ab, auch zu bestimmen, was aus der Ukraine wird. Dahinter steht ein Verständnis vom Staat als einem ,patrimonialen Staat‘, der Privateigentum des Herrschers ist – und auch das erinnert an die Zarenzeit. Ganz normale politische Vorgänge der Moderne, wie eben die Tatsache, dass sich in der Ukraine demokratische Strukturen entwickelt haben, empfindet Putin als Störfaktor.

Es ist offensichtlich, worauf Putin abzielt: Er will die Orangene Revolution diskreditieren, ihr die Legitimation entziehen. Ein demokratisches Staatswesen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft sieht Putin als eine Art Provokation. 

Prof. Dr. Thomas Wünsch, Osteuropa-Historiker

Die Ukraine ihrerseits ist kein homogenes Staatswesen, sondern besteht aus unterschiedlichen, historisch gewachsenen Regionen. Der ehemalige Präsident Viktor Juschtschenko versuchte deshalb, im Gefolge der Orangenen Revolution von 2004 eine einigende Identität zu finden und baute so den Nationalistenführer Stepan Bandera als Integrationsfigur auf. Bandera hatte mit dem Hitler-Regime kollaboriert, war antisemitisch und anti-polnisch eingestellt. Damit lieferte Juschtschenko ungewollt Munition für Putins Propaganda, wonach das Land von Neonazis regiert werden würde.

Doch dieser Vorwurf ist wohlfeil. Denn tatsächlich gibt es den Rechten Sektor, also rechtsradikale Organisationen in der Ukraine; es gibt aber auch nationalistische und rechtsradikale Gruppierungen in Russland. Es ist offensichtlich, worauf Putin abzielt: Er will die Orangene Revolution diskreditieren, ihr die Legitimation entziehen. Ein demokratisches Staatswesen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft sieht Putin als eine Art Provokation. Und die Ukraine ist für Putin nicht irgendein Nachbar, sie ist Teil des von ihm so definierten ,historischen Territoriums‘, das den Fortbestand der Kiewer Rus‘ beinhaltet.

Putin hat es nicht an Vorankündigungen fehlen lassen, dieses Territorium, und damit auch die Ukraine, wieder in Besitz zu nehmen. In seiner Rede kurz nach der Krim-Annexion von 2014 benutzte er eine auf den ersten Blick merkwürdige Metapher. Er verglich Russland mit einer Feder, die bis zum Anschlag zusammengedrückt sei. Diese Feder, so der russische Präsident, werde eines Tages mit aller Kraft zurückspringen. Das klang seltsam defensiv, beleidigt und drohend zugleich – und das in einem Moment des Triumphs. Damit aber könnte Putin bereits angedeutet haben, dass er es nicht bei der Krim belassen würde, sondern dass er auf die Ukraine als Ganzes abziele, mit Kiew als ,Mutter aller rus(s)ischen Städte', wie es in der mittelalterlichen Nestorchronik heißt.

Warum der Angriff ausgerechnet jetzt? 1922, also vor 100 Jahren, verleibte sich die Sowjetunion die Ukraine ein, die für kurze Zeit nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs versucht hatte, eine eigenständige Staatlichkeit zu entwickeln. Diese Parallele wird Putin in seinem aktuellen Handeln sicherlich nicht gestört haben."

Welche Fragen haben Sie zum Angriff auf die Ukraine? Schreiben Sie uns: frag-die-wissenschaft@uni-passau.de - wir leiten Ihre Fragen weiter und veröffentlichen an dieser Stelle zeitnah Antworten von Forschenden.

Weitere Einschätzungen

Unabhängigkeitsdenkmal der Ukraine auf dem Majdan Nesaleschnosti in Kiew. Foto: Adobe Stock

Digitale Propaganda, Putins Geschichtsbild, Cyberkrieg, wirtschaftliche Folgen: Einschätzungen von Passauer Forschenden zu den Hintergründen und aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg.

Stellungnahme der Universitätsleitung

Präsident Prof. Dr. Ulrich Bartosch äußert sich in einer Videobotschaft zur Haltung der Universität angesichts des Kriegsgeschehens und erläutert die derzeitigen Hilfs- und Handlungsmöglichkeiten.

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