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Was bedeutet der Ukraine-Krieg für das europäische Projekt?

Europa ist ein Forschungsschwerpunkt der Universität Passau: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen befassen sich mit den politischen, historischen und kulturellen Dynamiken. Für uns ordnen sie aktuelle Entwicklungen und Hintergründe ein. Teil 1: Der Politologe Prof. Dr. Daniel Göler über die Frage, wie sich die Europäische Union positionieren muss.

Professor Daniel Göler

Prof. Dr. Daniel Göler.

Prof. Dr. Daniel Göler hat an der Universität Passau den Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik inne. Im Zentrum seiner Forschungs­arbeit stehen sämtliche Belange der Europäischen Integration, darunter auch die Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zusammen mit dem Osteuropa-Historiker Prof. Dr. Thomas Wünsch beteiligt er sich an einem Jean-Monnet-Netzwerk, das Universitäten aus der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion umfasst. Am Mittwoch, 9. März, spricht er auf dem Podium anlässlich des Besuchs der französischen Generalkonsulin Corinne Pereira, die im Audimax der Universität Passau Frankreichs europäische Vision vorstellen wird.

Ich hatte am Tag nach dem russischen Einmarsch ein gemeinsames virtuelles Seminar mit meiner Kollegin Dr. Kristina Kurze von unserer Partneruniversität, der Andrássy Universität Budapest, zum Thema strategisches Denken in der Außen- und Sicherheitspolitik. An der Diskussion nahmen zahlreiche Studierende aus Mittel- und Osteuropa teil, darunter auch aus der Ukraine. Eine ukrainische Studentin schilderte dabei aus ihrer persönlichen Sicht die aktuelle Situation in ihrem Land. Das geht einem sehr unter die Haut. Zugleich beeindruckte mich die Studentin mit ihren Berichten von der Entschlossenheit, mit der sich die Menschen in der Ukraine dem russischen Vorgehen entgegenstellen.

In dem Seminar kamen wir auch auf das paneuropäische Manifest von 1923 zu sprechen, einen Aufruf an die europäischen Völker, künftige Kriege durch Zusammenarbeit und Integration zu verhindern. Darin heißt es unter anderem: ,Antwortet denen, die eine Änderung der heutigen Grenzen zur Vorbedingung eines neuen Europa machen, daß eine Verschiebung dieser Grenzen nur durch allgemeinen Krieg und Ruin möglich ist […und] daß stabile Grenzen in Europa möglich - gerechte Grenzen aber unmöglich sind.‘ Dieser nun fast 100 Jahre alte Appell wirkt angesichts der historisch begründeten Infragestellung der territorialen Integrität der Ukraine durch den russischen Präsidenten aktueller denn je.

Wir Europäerinnen und Europäer müssen jetzt das vorantreiben, was Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor vier Jahren bereits in seiner Sorbonne-Rede betont hat: die europäische Souveränität.

Prof. Dr. Daniel Göler, Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls für Europäische Politik

In der aktuellen Krise könnte es grundsätzlich sinnvoll sein, dass Europa  sich wieder stärker auf seine Anfänge besinnt. Neben dem friedenspolitischen Motiv der Überwindung interner Differenzen und wirtschaftlichen Motiven  war die europäische Integration in den 1950er Jahren ganz klar auch ein Zusammenstehen gegen eine äußere Bedrohung - zum damaligen Zeitpunkt die Sowjetunion. Wir Europäerinnen und Europäer müssen jetzt das vorantreiben, was Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor vier Jahren bereits in seiner Sorbonne-Rede betont hat: die europäische Souveränität. Wir müssen unsere Kräfte in der Außen- und Sicherheitspolitik bündeln und dürfen uns nicht mehr so sehr auf die USA verlassen. Nicht auszudenken, wie die Situation wäre, wenn Donald Trump noch US-Präsident wäre.

Erste Ansätze zu einer stärkeren Kooperation in diesem Bereich gibt es, etwa die sogenannte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, der Europäische Verteidigungsfonds oder der in Ausarbeitung befindliche Strategische Kompass, im Zuge dessen die Mitgliedstaaten Bedrohungen analysieren und die gemeinsamen sicherheitspolitischen Herausforderungen definieren. Die EU muss sich auch fragen, wie sie künftig mit einem Russland umgeht, das kaum mehr als Partner gesehen werden kann.

In dem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass die EU bisher weitgehend geschlossen und entschlossen auf die Krise reagiert hat. Das ist umso beachtlicher, als es in den vergangenen Jahren in Bezug auf Russland doch sehr unterschiedliche Positionen in der EU gegeben hat. Man hat aktuell den Eindruck, dass die externe Bedrohung EU-intern eine integrierende Wirkung entfaltet, einen Effekt den man in der Integrationsgeschichte schon mehrfach beobachten konnte und der für die Zukunft hoffen lässt."

Welche Fragen haben Sie zum Angriff auf die Ukraine? Schreiben Sie uns: frag-die-wissenschaft@uni-passau.de - wir leiten Ihre Fragen weiter und veröffentlichen an dieser Stelle zeitnah Antworten von Forschenden.

Weitere Einschätzungen im Überblick

Unabhängigkeitsdenkmal der Ukraine auf dem Majdan Nesaleschnosti in Kiew. Foto: Adobe Stock

Digitale Propaganda, Putins Geschichtsbild, Cyberkrieg, wirtschaftliche Folgen: Einschätzungen von Passauer Forschenden zu den Hintergründen und aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg.

Stellungnahme der Universitätsleitung

Präsident Prof. Dr. Ulrich Bartosch äußert sich in einer Videobotschaft zur Haltung der Universität angesichts des Kriegsgeschehens und erläutert die derzeitigen Hilfs- und Handlungsmöglichkeiten.

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