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Recht und Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung in der COVID-19-Pandemie

Von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie profitieren wir alle. Die damit verbundenen Nachteile sind aber höchst ungleich verteilt. Über die (schwierige) Aufgabe des Rechts, für einen gerechten Ausgleich zu sorgen. Von Prof. Dr. Sebastian Martens

Die Corona-Pandemie betrifft uns alle – in einer Weise, die wir bisher nicht kannten. In der neuen Reihe „Passauer Universitäts-Perspektiven“ beziehen Forscherinnen und Forscher der Universität Passau in losen Abständen aus ihrer Disziplin heraus Position zu aktuellen Entwicklungen. 

Um einen größeren Ausbruch der COVID-19-Pandemie in Deutschland zur verhindern, haben Staat und Gesellschaft in den vergangenen Monaten das soziale Leben und alle damit verbundenen Aktivitäten in einem bislang noch nie dagewesenen und bis vor kurzem auch völlig undenkbaren Maße eingeschränkt. Ohne diese Maßnahmen hätte es mit Sicherheit sehr viel mehr Todesopfer und auch sonst erhebliches Leid durch die Krankheit gegeben. Da wir uns potentiell alle mit dem Virus anstecken können und wir nicht sicher wissen können, ob und wie schwer wir erkranken würden oder wie schlimm uns ein allgemeiner Zusammenbruch des Gesundheitssystems treffen würde, profitieren wir alle erheblich von den Maßnahmen zu der Eindämmung der Pandemie.

Lasten treffen nur relativ wenige

Die Nachteile der staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionen auf SARS-CoV-2 haben die Menschen in Deutschland allerdings sehr ungleich getroffen. Die mehrmonatige Beschränkung des Lebens auf die eigene Wohnung belastet eine mehrköpfige Familie, die in einer kleinen Wohnung lebt, stärker als die Eigentümer eines großen Hauses mit Garten. Einen Rentner beschwert die Schließung von Schulen und Kitas naturgemäß wenig; er freut sich allenfalls über die Ruhe, wenn er in der Nachbarschaft einer solchen Einrichtung lebt und das Kindergeschrei so abgestellt ist. Die eine genießt eine willkommene Auszeit vom Alltagsstress, während der andere ohne Kontakte vereinsamt. Es ist schwer, solche immateriellen Vor- und Nachteile der Reaktionen auf SARS-CoV-2 zu messen. Eine vollständige Bilanzierung über die gesamte Gesellschaft ist wohl unmöglich. Im Vordergrund der politischen Debatte stehen indes auch die mess- und bezifferbaren materiellen Auswirkungen der Krise.

Prof. Dr. Sebastian Martens

Prof. Dr. Sebastian Martens, M.Jur. (Oxon.)

forscht zu Bürgerlichem Recht und Europäischem Privatrecht sowie Rechtsgeschichte

Wie kann das Recht zu einer gerechten Lastenverteilung in Krisenzeiten beitragen?

Wie kann das Recht zu einer gerechten Lastenverteilung in Krisenzeiten beitragen?

Prof. Dr. Sebastian Martens, M.Jur. (Oxon.) ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Römisches Recht, Europäisches Privatrecht und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Passau.

Wie aus repräsentativen Umfragen hervorgeht, ist (bislang) der weit überwiegende Großteil der Bevölkerung von solchen materiellen, also finanziellen Krisenschäden verschont geblieben. Ende Mai gaben 86 Prozent der Befragten im ZDF-Politbarometer an, persönlich keine oder keine so starke Verschlechterung ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation zu befürchten. Doch auch unter den übrigen 14 Prozent dürften nur relativ wenige Personen wirklich schwer getroffen worden sein. So haben Millionen in Kurzarbeit zwar (vorübergehende) Gehaltseinbußen hinnehmen müssen, aber sie stehen doch nicht vor dem Ruin wie viele Selbständige, denen bei zumindest teilweise weiterlaufenden Ausgaben nicht selten alle Einnahmen weggebrochen sind.

Wer die Vorteile einer Maßnahme hat, sollte auch ihre Nachteile tragen

Ein herkömmliches und unmittelbar einleuchtendes Gerechtigkeitsprinzip fordert, dass Vorteile nur genießen dürfen sollte, wer auch die damit verbundenen Nachteile tragen muss. Im Interesse und zum Vorteil der Gemeinschaft kann es nötig sein, dass Einzelne ihre Rechte und Rechtsgüter aufopfern müssen und im Vergleich zu anderen besonders belastet werden. Schon § 75 der Einleitung des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 bestimmte im Sinne des genannten Gerechtigkeitsprinzips, dass „der Staat denjenigen, welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten“ sei. Auf diese Vorschrift wird noch heute ein allgemeiner Entschädigungsanspruch gegen den Staat gestützt, der eingreift, wenn eine Bürgerin übermäßig und besonders belastet wird und keine spezielleren Regeln bestehen.

Entschädigungsansprüche gegen Staat wohl nur im Ausnahmefall

Die staatlichen Maßnahmen, mit denen das öffentliche Leben zur Eindämmung der Pandemie seit März 2020 so stark eingeschränkt wurde, sind im Wesentlichen auf § 28 Absatz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestützt worden. Danach können die zuständigen Behörden die „notwendigen Schutzmaßnahmen“ treffen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Als der Gesetzgeber § 28 IfSG formulierte, hatte er bei solchen notwendigen Schutzmaßnahmen vor allem an Maßnahmen gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen und Ansteckungsverdächtigen gedacht. Niemand hatte sich vorstellen können, dass man § 28 IfSG einmal nutzen müsste, um ganz allgemein die Freiheitsrechte der gesamten Bevölkerung einzuschränken, die zum ganz überwiegenden Großteil vollkommen unverdächtig war, mit dem Virus angesteckt zu sein.

Entschädigungsansprüche gewährt das IfSG daher auch nur in den Fällen, an die der Gesetzgeber bei Erlass gedacht hatte, nämlich beispielsweise bei Anordnungen gegen Kranke (§ 56 IfSG), oder wenn der Staat zur Bekämpfung einer Seuche auf konkrete Vermögensgegenstände von Privatpersonen zurückgreift (§ 65 IfSG). Eine Entschädigung von ganz Unverdächtigen, die durch Schutzmaßnahmen Einkommenseinbußen oder sonstige Vermögensnachteile erleiden, sieht das IfSG nicht vor. Einen Ausweg könnten hier die Polizeigesetze der Länder bieten. Danach bestehen unter bestimmten Voraussetzungen Entschädigungsansprüche für sogenannte Nichtstörer, also Personen, von denen keine Gefahr ausgeht, wenn der Staat gegen sie vorgeht und sie dabei Schäden erleiden. Die juristische Fachwelt diskutiert gegenwärtig kontrovers, ob Personen, die infolge der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie finanzielle Schäden erlitten haben, solche Ansprüche nach den Polizeigesetzen haben. Es ist freilich zu erwarten, dass die Gerichte nur in wenigen Ausnahmefällen solche Ansprüche anerkennen werden.

Gerechte Belastung aller wäre politisch nicht durchsetzbar

Auch wenn nur ein Ausgleich der Schäden der verhältnismäßig wenigen besonders stark Geschädigten wirklich gerecht wäre, so handelte es sich doch insgesamt um Summen, welche die gegenwärtig geschnürten Hilfspakete bei weitem überstiegen. Die Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Pandemie haben nicht zuletzt deshalb so viel Zustimmung erfahren, weil der Großteil der Bevölkerung nur den Vorteil des Gesundheitsschutzes genießen konnte, aber kaum Nachteile zu tragen hatte und größere Schäden nur eine verhältnismäßig kleine Minderheit erlitten hat. Schon sprachlich wird der Zusammenhang zwischen den politischen Maßnahmen und den durch sie verursachten Schäden regelmäßig verschleiert, indem man von den „Folgen der COVID-19-Pandemie“ spricht, als ob sich die Restaurants, Hotels oder Betriebe mit dem Virus infiziert hätten. Freilich erscheinen so die staatlichen Hilfsprogramme als großzügige Unterstützung in einer Art Naturkatastrophe und nicht als Ausgleich für eben von Staat und Gesellschaft verursachte Schäden durch Maßnahmen, mit denen eine drohende Naturkatastrophe abgewendet wurde. Ein vollständiger Ausgleich der Schäden und die damit verbundene Belastung aller, mit der ein gerechter Gleichlauf von Vor- und Nachteilen hergestellt würde, wäre politisch kaum durchsetzbar, da dann auch die bislang verschonte Mehrheit den Gürtel deutlich enger schnallen müsste. Die vielen Milliarden, die in Form von Krediten, verlorenen Zuschüssen oder Investitionen die Wirtschaft wieder ankurbeln sollen, werden also nichts daran ändern, dass viele Bürgerinnen und Bürger (aber eben doch nur eine Minderheit) mit ihren Schäden alleine zurechtkommen müssen.

Ein wenig hilfreiches Gesetz zur Abmilderung der Folgen im Zivilrecht

Vielfach ist allerdings gar nicht unbedingt klar, wer welche Schäden hat. In zahlreichen Vertragsbeziehungen stellt sich die Frage, welche Partei die Risiken der Pandemie tragen muss. Diese Frage ist konkret im Einzelfall nach den Regeln des Privatrechts zu beantworten. Nun hat die Regierung auch das Privatrecht durch zwei Gesetze zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie modifiziert. Mit diesen Gesetzen wollte sie jedoch nichts an der jeweiligen vertraglichen Risikoverteilung ändern, sondern nur bei bestimmten besonders wichtigen Verträgen denjenigen vorübergehend helfen, die infolge der Pandemie Schwierigkeiten hatten, ihre vertraglichen Pflichten zu erfüllen. Bis zum 30. Juni dürfen Vermieter Mietern nicht kündigen, wenn diese pandemiebedingt ihre Miete nicht zahlen konnten, Grundversorger dürfen ihre Lieferungen von Strom, Gas oder Wasser nicht einstellen, wenn ihre Kunden wegen der Pandemie die Zahlungen einstellen müssen, und Verbraucherdarlehensverträge müssen gegebenenfalls gestundet werden.

Das Privatrecht dient der Korrektur von Ungerechtigkeiten zwischen einzelnen Bürgern. Es ist damit ungeeignet, davon unabhängige gesamtgesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu lindern.

Prof. Dr. Sebastian Martens, Universität Passau

Leider ist nicht zu erwarten, dass am 1. Juli allgemeiner plötzlicher Reichtum ausbricht und die bis dato geschützten Bürger die aufgelaufenen Schulden dann begleichen können. Die Eingriffe in das Privatrecht sind daher wenig nachhaltig, was offenbar auch von Teilen der Regierung erkannt worden ist. Denn es gibt bereits die Forderung, die genannten Schutzmaßnahmen beispielsweise für Mieter um drei Monate zu verlängern. Auch dadurch würde das Problem jedoch nicht gelöst, sondern nur weiter in die Zukunft verschoben und die betroffenen Schuldner sähen sich am 1. Oktober einem noch größeren Schuldenberg gegenüber.

Das Risiko der Pandemie im Vertragsrecht

Das Privatrecht dient der Korrektur von Ungerechtigkeiten zwischen einzelnen Bürgern. Es ist damit ungeeignet, davon unabhängige gesamtgesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu lindern. Katastrophen wie die COVID-19-Pandemie sind für das Privatrecht nur erheblich, wenn und soweit sie sich auf konkrete Rechtsverhältnisse zwischen einzelnen Bürgern auswirken. In der gegenwärtigen Krise kann dies vor allem dann der Fall sein, wenn Vertragsparteien bei Abschluss ihres Vertrags nicht an das Risiko einer Pandemie gedacht hatten und sich nun infolge der Pandemie der Wert oder die Bedeutung der vertraglichen Leistungen so geändert haben, dass ein Festhalten an den unveränderten Vertragsbedingungen für eine Partei unzumutbar wäre.

Beispielsweise konnten viele Gewerbemieter aufgrund behördlicher Betriebsverbote die von ihnen gemieteten Räume monatelang nicht nutzen. Diese Betriebsverbote waren freilich nicht durch ein Verhalten der Gewerbemieter oder sonst in ihrer Person begründet, sondern die Behörden wollten nur allzu viele soziale Kontakte verhindern, um so die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Dieses Ziel hätte man aber auch erreichen können, indem man den Vermietern untersagt hätte, ihre Räumlichkeiten für Publikumsverkehr zur Verfügung zu stellen. Nach allgemeinen Regeln hätten die Vermieter das volle Risiko einer solchen Nutzungsuntersagung tragen müssen und die Miete wäre auf null gemindert worden. Wiederum nach allgemeinen Regeln träfe die Mieter das Risiko der tatsächlich erlassenen Betriebsverbote und sie müssten die vollständige Miete entrichten.

Da für die Parteien der Mietverträge sowohl die Pandemie als auch die Art und Richtung der zu ihrer Bekämpfung ergangenen Maßnahmen zufällig und unvorhersehbar waren, müssen die unter normalen Umständen geltenden Regeln ausnahmsweise zurücktreten und der pandemiebedingte Schaden ist nach einer Sondernorm (§ 313 BGB) bei Gewerbemietverträgen zwischen den Parteien hälftig aufzuteilen. Eine solche Schadensaufteilung wird auch noch in vielen anderen Vertragsverhältnissen in Betracht kommen, da wohl niemand mit dem Risiko der COVID-19-Pandemie und den politischen und gesellschaftlichen Reaktionen hierauf gerechnet hat.

Fazit: Gerechtigkeit im Kleinen?

Für eine gerechte Verteilung der pandemiebedingten Schäden über die gesamte Gesellschaft wird das Recht also wahrscheinlich nicht sorgen können, aber es wäre doch auch eine Leistung, wenn es wenigstens Gerechtigkeit zwischen den einzelnen Bürgern schaffen könnte.

Haben Sie Fragen oder Anregungen zu dem Beitrag? Sind Sie Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler der Universität Passau und möchten sich aus Ihrer Disziplin heraus äußern? Schreiben Sie uns: perspektiven@uni-passau.de

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