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Triage – wer wird behandelt, wer nicht?

Dürfen Kriterien wie die gesellschaftliche Stellung oder die Systemrelevanz bestimmter Berufsgruppen eine Rolle spielen? Prof. Dr. Dr. Peter Fonk, Inhaber des Lehrstuhls für Theologische Ethik, hat eine klare Antwort.

In Deutschland sind wir in der glücklichen Situation, dass uns die Pandemie bislang nicht zur Notwendigkeit der Triage gezwungen hat. In anderen Ländern, in Italien, in Spanien oder in Frankreich, war das anders. In Italien veröffentlichte die italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI) im März diesen Jahres Kriterien, welche Patientinnen und Patienten vor- und nachrangig zu behandeln sind. Diese beziehen sich einerseits auf die Prognose, also auf die Überlebenswahrscheinlichkeit, und andererseits auf den zu erwartenden gesellschaftlichen Nutzen.

Das sind Kriterien, die wir in Deutschland nicht akzeptieren würden. Unser Ethikrat vertritt die klare Position, wonach jeder Mensch einen Anspruch auf Behandlung hat, und zwar unabhängig von Gesichtspunkten wie Alter oder Geschlecht. Die Stimme der Institutionen ist hier eindeutig. Triage wird in Deutschland entschieden nach einer Kombination aus Prognose und Behandlungserfolg. Prognosen sind in Zusammenhang mit COVID-19 schwierig, da wir zu wenig über die Krankheit wissen. Um den Behandlungserfolg abschätzen zu können, ist es nötig, den Schweregrad der Erkrankung einzuschätzen. Hat der Sterbeprozess bereits unvermeidbar begonnen? Würde der Patient oder die Patientin mit einer Behandlung überleben? Würde der Patient oder die Patientin womöglich auch ohne Behandlung überleben?

Ursprünglich kommt der Begriff der Triage aus der Kriegsmedizin. Im Krimkrieg 1854 hat der russische Chirurg Nikolai Pirogow erstmals die Notwendigkeit gesehen, diese Frage zu stellen: Was macht man, wenn die Zahl der Patienten die Zahl der vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten überstiegt? Wer kommt für die Behandlung in Frage? Wer wird transportiert? Wer ist überhaupt transportfähig?

Ähnliche Fragen stellen sich in anderen Bereichen, etwa im Falle eines knappen Impfstoffes. Wer erhält diesen? Aus ethischer Sicht muss hier entschieden werden nach einer Kombination von Bedürftigkeit und Prognose. Wer ist am stärksten gefährdet? Wer braucht den Impfstoff am dringendsten? Und bei wem ist es so, dass eine Impfung noch Sinn ergibt?

Auf gar keinen Fall dürfen Aspekte wie die hohe gesellschaftliche Stellung einer Person oder die Systemrelevanz bestimmter Berufsgruppen eine Rolle spielen. Ethisch gesehen sind alle Menschen gleich. Um es mit dem Philosophen Kant zu sagen: Die Menschenwürde wird allen Menschen gleichermaßen zugeschrieben. Oder, um es aus dem Christentum heraus zu begründen: Alle Menschen sind nach dem Bild Gottes geschaffen.

Nun wird dies in der Praxis durchaus anders gehandhabt. Aber das Faktische stellt nicht die ethische Norm in Frage. Die Tatsache, dass es in der Realität zu einer Ungleichverteilung der Medikamente und Therapiemaßnahmen kommt, heißt nicht, dass dies ethisch gesehen richtig ist und so sein soll. Vielmehr ist es Aufgabe der Ethik, solche Mängel zu erkennen und zu benennen. Und es ist Aufgabe des Staates, solch einer Ungleichbehandlung entgegenzuwirken.

Das geschieht etwa, indem der Staat im Gesundheitswesen präsent ist. Und das ist auch der große Vorteil, den wir hier in Deutschland haben. Nur durch eine starke staatliche Präsenz können wir sicherstellen, dass die Behandlungen möglichst viele erreichen.

Ich würde mir wünschen, dass auch die Kirchen ihre Stimme erheben und diesen Prozess begleiten. Ich denke hier nicht nur an die christliche, sondern auch an andere Glaubensgemeinschaften, wie etwa die muslimische."

Prof. Dr. Peter Fonk, Lehrstuhlinhaber für Theologische Ethik

Prof. Dr. Dr. Peter Fonk

forscht zu Theologischer Ethik, Medizin- und Unternehmensethik 

Welche ethischen Grundsätze brauchen die Führungskräfte von morgen?

Welche ethischen Grundsätze brauchen die Führungskräfte von morgen?

Msgr. Prof. Dr. Dr. Peter Fonk ist seit 1994/95 Inhaber des Lehrstuhls für Theologische Ethik an der Universität Passau. Er ist Leiter des Masterstudiengangs Caritaswissenschaft und werteorientiertes Management und des Instituts für Angewandte Ethik in Wirtschaft, Aus- und Weiterbildung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in christlicher Sozialethik, Wirtschafts- und Unternehmensethik.

Haben Sie Fragen zu dem Thema? Schreiben Sie uns: frag-die-wissenschaft@uni-passau.de - Wir leiten Ihre Fragen an Herrn Professor Fonk weiter und veröffentlichen an dieser Stelle zeitnah seine Antworten.

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