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Studie über Corona-Berichterstattung von ARD und ZDF sorgt für lebhafte Diskussion

Mit ihrer Analyse der Sendungen „ARD Extra – Die Coronalage“ und „ZDF Spezial“ haben die Kulturwissenschaftler PD Dr. Dennis Gräf und Dr. Martin Hennig eine Debatte über Aufgabe und Selbstverständnis des Krisenjournalismus ausgelöst. 

Was erzählen uns Medien über unsere Vorstellungen von der Welt? Welche Bilder transportieren sie vom Menschen, von der Gesellschaft, von Wirklichkeit – und was geschieht, wenn diese Wirklichkeit erschüttert wird? Solche Fragen beschäftigen die Kulturwissenschaftler PD Dr. Dennis Gräf und Dr. Martin Hennig von der Universität Passau seit jeher. In ihrer jüngsten Studie „Die Verengung der Welt“ richtet sich ihre Forschung erstmals auf die mediale Konstruktion Deutschlands in der Covid-19-Pandemie: In einer wissenschaftlichen Analyse der Sendungen „ARD Extra – Die Coronalage“ und „ZDF Spezial“ haben sie gezeigt, wie journalistische Formate Weltbilder aufbauen – und medienübergreifend eine lebhafte Diskussion über Aufgabe und Selbstverständnis des Krisenjournalismus ausgelöst.

Dr. Martin Hennig

Kulturwissenschaftler Dr. Martin Hennig.

„Als Kulturwissenschaftler beschäftigen wir uns mit den in medialen Produkten konstruierten Welt- und Gesellschaftsbildern, die wir als Formen kultureller Selbstverständigung betrachten. Angesichts der anhaltenden Ausnahmesituation seit dem Frühjahr 2020 stellte sich die drängende Forschungsfrage nach den Auswirkungen der Pandemielage auf die gesellschaftliche Selbstwahrnehmung“, beschreibt Dr. Martin Hennig, Postdoc am Graduiertenkolleg „Privatheit und Digitalisierung“ der Universität Passau, die Motivation hinter dem Forschungsprojekt.

Gemeinsam mit PD Dr. Dennis Gräf  vom Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft hat er stellvertretend für den deutschen Kulturraum die Sondersendungen „ARD Extra – Die Corona-Lage“ und „ZDF Spezial“ analysiert, „da anzunehmen war, dass sich aus diesen beiden zur Hauptsendezeit ausgestrahlten öffentlich-rechtlichen Formaten mit einer Länge von teils über 30 Minuten zentrale Merkmale der Berichterstattung im Untersuchungszeitraum ableiten lassen und den Sendungen gleichzeitig eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Diskurs zu Covid-19 zugekommen ist.“

PD Dr. Dennis Gräf; Foto: Grimm

Kulturwissenschaftler PD Dr. Dennis Gräf. Foto: Grimm

Zwei Monate lang, von Mitte März bis Mitte Mai 2020, haben Gräf und Hennig mehr als 90 Ausgaben der beiden Sondersendungen untersucht – im Hinblick auf Faktoren wie Aufbau und Konzeption, Informationsgehalt, Auswahl der Themen und Personen, verwendete Rhetorik und audiovisuelle Inszenierung. Dabei gelangen die beiden Autoren über die Krisenberichterstattung der beiden öffentlich-rechtlichen Sender zu einer Reihe von Schlussfolgerungen, die sie unter dem Begriff „Verengung der Welt“ zusammenfassen:

  • Krisenerhaltung durch Rhetorik der Krise: Die Krise ist zum einen Thema der Sendungen, zum anderen auch das leitende erzählerische Muster, das durch eine sich wiederholende krisenhafte Bildsprache verstärkt wird. Die aus den jeweiligen Themen resultierenden Problemstellungen würden „auf der Inszenierungsebene im Zusammenspiel zu einer vollständig negativen Weltsicht übersteigert, die kein primär inhaltliches, sondern ein rhetorisches Phänomen bildet“ – und zugleich die Legitimation für weitere Sondersendungen in dichter Taktung liefere.
  • Dominanz des Leistungsprinzips: Gerade in der Darstellung der Auswirkungen auf private Familiensituationen wird ein Leistungsideal betont, das um außerfamiliäre Werte wie Produktivität, Effizienz und Pflichterfüllung kreist. „Das Familienleben in der Krise verkommt so zur Nicht-Zeit, die schon darüber abgewertet ist, dass sie nicht den üblichen gesellschaftlichen Maximen folgt“, resümiert die Studie.
  • Teilweise Fiktionalisierungsstrategien: Unter diesem Begriff fassen die beiden Forscher ästhetische Prinzipien zusammen, die „auf die Bildwelten apokalyptischer Endzeiterzählungen verweisen“ – z.B. Bilder verwaister Orte und Geschäfte oder das „aus Virenthrillern gespeiste Motiv des zeitlichen Wettlaufs um die Entwicklung eines Impfstoffes“. Am Beispiel eines ZDF-Beitrags über die Situation in New York zeigt die Analyse im Detail auf, wie mit Inszenierungsstrategien gearbeitet wurde, die üblicherweise nicht in Dokumentationen, sondern eher in Hollywood-Blockbustern zu finden sind.

Insgesamt stellen Gräf und Hennig auf Grundlage der untersuchten Kriterien eine Tendenz der Sondersendungen „zur Affirmation der staatlichen Maßnahmen“ fest, eine tiefergehende Kritik an den von der Politik getroffenen Maßnahmen bleibe aus. „Wir sagen damit nicht, dass diese Sendungen staatshörig sind, es werden ja durchaus kritische Fragen gestellt“, so Hennig. Die grundsätzliche Annahme, dass die Maßnahmen verhältnismäßig, angemessen und zielführend seien, würde jedoch nur selten hinterfragt.

„Studie ist nicht als Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu sehen“

– Gemeinsame Stellungnahme

Eine normative Bewertung der beiden Formate und der zugehörigen Sender nimmt die Studie, die bereits über 15.000 Abrufe bei Researchgate verzeichnet, ausdrücklich nicht vor. Dennoch sehen sich die beiden Forscher in der Medienöffentlichkeit damit konfrontiert, dass nicht ihre wissenschaftlichen Ergebnisse im Vordergrund stehen, sondern die Studie als grundsätzliche Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk gedeutet wird.

„Die Studie besteht aus einer Analyse der Rhetoriken und Strategien der Sondersendungen“, betont Gräf. „Sie fordert also zu einem wissenschaftlichen Anschluss auf, beispielsweise die Sondersendungen in ein Verhältnis zur gesamten Berichterstattung von ARD und ZDF zu Corona zu setzen.“

An einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Artikel sei ihnen ausdrücklich gelegen, betonen beide Wissenschaftler in einer gemeinsamen Online-Stellungnahme, man freue sich über Zustimmung und Kritik gleichermaßen. „Was wir jedoch für bedenklich halten, sind mediale Äußerungen, die unseren Artikel nicht als wissenschaftlichen Beitrag, sondern als gesellschaftspolitische bzw. politische Meinung verstehen wollen.“

Es gehe nicht darum, die Medien zu verurteilen oder ihnen Empfehlungen zu geben, so Gräf weiter. „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss unabhängig bleiben. Aber wir können das, was er macht, analysieren und interpretieren und die textuellen Strukturen dahinter sichtbar machen.“

Die vollständige Stellungnahme lesen Sie auf den Internetseiten der Universität Passau.

Die Forschungsarbeit wird in den nächsten Wochen auch im Magazin des DFG-Graduiertenkollegs Privatheit und Digitalisierung veröffentlicht werden.

Text: Katrina Jordan

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