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Positive Nebenwirkung von Bismarcks Krankenversicherung

Mit unserer Studie belegen wir, dass die erste allgemeine Pflichtkrankenversicherung vor allem durch die Verbreitung von exklusivem medizinischen Wissen Leben gerettet hat. Von Prof. Dr. Stefan Bauernschuster

Blick in das Arbeitszimmer von Robert Koch. Quelle: RKI

Die Einführung der ersten allgemeinen Pflichtkrankenversicherung der Welt ist ein historisches Beispiel für erfolgreiche Wissenschaftskommunikation. Es zeigt eindrücklich, was passiert, wenn sich wissenschaftliche Erkenntnisse durchsetzen.

Während heute Verschwörungstheorien und Fake News der Wissenschaft Konkurrenz machen, mussten sich die gut ausgebildeten Ärzte im 19. Jahrhundert gegen Quacksalber und Scharlatane durchsetzen. Und das mit Erkenntnissen, die zum damaligen Zeitpunkt mehr als abenteuerlich klangen: Kleine Tiere sollen infektiöse Krankheiten auslösen, und nicht etwa schlechte Gerüche aus der Erde, was damals die vorherrschende Meinung war. 

Als Otto von Bismarck 1884 die erste allgemeine Pflichtkrankenversicherung der Welt einführte, wurden zum ersten Mal in der Geschichte alle Arbeiter gegen Krankheit versichert. Sie erhielten also bezahlten Krankenurlaub sowie uneingeschränkten Zugang zu Ärzten und medizinischer Behandlung. Anhand von historischen Daten aus Preußen untersuchen wir, wie sich diese Neuerung auf die Sterberate auswirkte.

Unsere Hauptanalyse bauen wir auf administrativen Sterblichkeitsdaten aus preußischen Bezirken zwischen 1877 und 1900 auf. Preußen machte zwei Drittel des Deutschen Reiches aus und verfügte über ein statistisches Amt, das Daten zur Sterblichkeit nach Berufsgruppen sammelte und meldete. In Kombination mit den kaiserlichen Bevölkerungszählungen können wir so die berufsspezifischen Sterblichkeitsraten auf Regierungsbezirkebene berechnen.

Sterblichkeitsrate sank um 9 Prozent

Als die Versicherung 1884 eingeführt wurde, wurde sie nur für Arbeiter verpflichtend. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung blieb für andere Berufsgruppen wie öffentlich Bedienstete unverändert. Während sich die Sterblichkeitsraten von Arbeitern und öffentlich Bediensteten vor der Einführung der Versicherung noch sehr ähnlich entwickelten, sanken sie nach 1884 bei Arbeitern viel schneller als bei öffentlich Bediensteten. Unsere Berechnungen zeigen, dass Bismarcks Krankenversicherung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Sterblichkeitsrate von Arbeitern (und ihren Familien) um fast 9 Prozent verringerte, was circa ein Drittel des gesamten Sterblichkeitsrückgangs dieser Gruppe in diesem Zeitraum erklärt.

Grafik zur Entwicklung der Sterblichkeit in Preußen von 1877 bis 1900.

Entwicklung der Sterblichkeit in Preußen von 1877 bis 1900: Die Grafik zeigt die Todesfälle der Arbeiterschaft (durchgezogene, schwarze Linie) und der öffentlich Bediensteten (gestrichelte Linie) pro 1000 auf Regierungsbezirkebene in Preußen. Die hellgraue Linie ist die nach oben verschobene Sterblichkeitsrate der öffentlich Bediensteten. Es zeigt sich, dass die Kurve der Arbeiterschaft ab der Einführung von Bismarcks Krankenversicherung im Jahr 1884 im Vergleich zu den öffentlich Bediensteten überproportional sinkt. Der große, hellgraue Pfeil markiert den gesamten Mortalitätsrückgang der Arbeiterschaft, der kleine, dunkelgraue Pfeil markiert den Anteil, der auf Bismarcks Krankenversicherung zurückzuführen ist.

Nun könnte es dafür viele konkurrierende Erklärungen geben. Zum Beispiel, dass sich die Trinkwasser- und Abwassersysteme weiterentwickelt haben und die Arbeiter besonders davon profitierten, oder dass sich die Arbeitsbedingungen und Löhne der Arbeiter stärker verbesserten als die anderer Gruppen.

Doch all diese Erklärungen ändern nichts am Befund. Wir haben moderne Methoden der Datenanalyse auf die oben genannten historischen Daten angewandt und können belegen, dass es tatsächlich die Einführung Bismarcks Krankenversicherung und insbesondere die dadurch ermöglichte Verbreitung von neuem Wissen war, was die Todesrate der Arbeiter überproportional reduzierte.

Erheblich weniger Tuberkulose-Todesfälle

Dazu haben wir uns Daten zu den Todesursachen in Preußen näher angeschaut. Sie zeigen, dass es durch die Einführung Bismarcks Krankenversicherung vor allem weniger Tuberkulose-Todesfälle gab. Doch eine medikamentöse Behandlung von Tuberkulose wurde nicht vor 1946 entwickelt. Zur damaligen Zeit waren auch weder Antibiotika noch die aus heutiger Sicht wichtigsten Impfstoffe verfügbar. Die meisten infektiösen Krankheiten waren zur Jahrtausendwende also nicht heilbar. Deshalb überrascht der Rückgang der Tuberkulose-Sterbefälle so sehr.

Daten aus aggregierten Krankenkassenbilanzen legen nahe, dass dieser Rückgang mit Ausgaben für Arztbesuche und medizinischer Behandlung verbunden war, nicht jedoch mit Krankengeld. Bismarcks Krankenversicherung erzielte ihre Wirkung also dadurch, dass Haushalte mit niedrigem Einkommen uneingeschränkten Zugang zu Ärzten hatten, die sie sich früher nicht hätten leisten können.

Hervorragende medizinische Ausbildung im Kaiserreich

So konnte sich revolutionäres medizinisches Wissen unter armen Arbeiterfamilien verbreiteten. Es war die Zeit, als Robert Koch die Tuberkulose-Bakterien entdeckte. Bis dahin war die Wissenschaft noch davon ausgegangen, dass Seuchen und Epidemien wie Tuberkulose oder Cholera durch giftige Dämpfe ausgelöst würden, die aus dem Erdreich emporstiegen.

Deutsche Wissenschaftler waren in vielen medizinischen Belangen führend und zogen Studierende aus aller Welt an. Das System der Approbationen, also der staatlichen Zulassung, sorgte für eine Professionalisierung der medizinischen Ausbildung basierend auf wissenschaftlicher Qualifikation. Mit den akademischen Titeln war zudem ein hoher sozialer Status verbunden, was wiederum Patienten anlockte. Beste Voraussetzungen also, um die Bevölkerung über die Rolle von Hygiene zur Vorbeugung von Infektionskrankheiten aufzuklären. Gerade diese Informationen retteten Leben, zumal die medikamentöse Behandlung noch begrenzt war.

Das belegen auch unsere Kontrollproben: Der Rückgang der Sterberate war in jenen Gebieten größer, die nahe an einer medizinischen Fakultät lagen, oder in denen sich viele approbierte Ärzte befanden. Die Wirkung auf die Mortalitätsrate hätte sich also recht einfach und kostengünstig erkaufen lassen, etwa mit einer verpflichtenden Krankenversicherung, die sich auf Prävention durch Aufklärung über Hygiene konzentriert hätte.

Doch es ging Bismarck mit seiner Erfindung nicht vorrangig um die Verbesserung der Gesundheit der Arbeiter. Tatsächlich war die Einführung der verpflichtenden Krankenversicherung mit teuren Bestandteilen wie Krankengeld innenpolitisches Kalkül – es zielte auf Machterhalt und darauf, Unruhen unter den Arbeitern und den damit einhergehenden Aufstieg der Sozialistischen Arbeiterpartei zu stoppen. Im Gegensatz zum Rückgang der Sterberate verfehlte die Krankenversicherung allerdings hier ihre Wirkung: Bei Bismarcks Abgang war die SPD die mitgliederstärkste Partei im Reich.

Prof. Dr. Stefan Bauernschuster

forscht zu empirischer Evaluation politischer Maßnahmen

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Prof. Dr. Stefan Bauernschuster ist seit 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Public Economics an der Universität Passau sowie Projektleiter im DFG-Graduiertenkolleg 2720. Er ist Forschungsprofessor am ifo Institut München, Research Fellow des CESifo Netzwerks, Research Fellow des IZA Bonn und Mitglied des Ausschusses für Sozialpolitik beim Verein für Socialpolitik.

Die Studie „Bismarck’s Health Insurance and the Mortality Decline“erscheint im Oktober 2020 in der renommierten ökonomischen Fachzeitschrift Journal of the European Economic Association. Prof. Dr. Stefan Bauernschuster, Inhaber des Lehrstuhls für Public Economics an der Universität Passau, hat die historischen Daten aus Preußen gemeinsam mit Dr. Anastasia Driva (LMU München) und Prof. Dr. Erik Hornung (Universität Köln) analysiert. Erste Erkenntnisse ihrer Studie veröffentlichten sie 2017 als Discussion Paper. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzen dieses schnellere Format, um Themen zu besetzen und um vorläufige Ergebnisse von anderen Sachverständigen kritisch beleuchten zu lassen. In den vergangenen drei Jahren prüfte das Forschungsteam die Validität der Haupterkenntnisse und arbeitete wichtige Anregungen von Fachkolleginnen und -kollegen ein.

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